Begegnung in Amsterdam
Michael Cornelius Zepter (unveröffentlichtes Manuskript 1985)

Vorbemerkung: Ich wurde in ein Volk und eine Zeit hineingeboren (1938 in Köln), von deren Schrecken und Verbrechen ich lange Zeit nichts wusste. Die Informationen darüber musste ich – wie fast alle meiner Generation – den Erwachsenen abtrotzen. Was wir dann erfuhren, blieb lange fragmentarisch. Nur Stück- und Halbwahrheiten waren es, zurechtgebogen; wenn nicht gelogen, dann doch immer schon mit Entschuldigungen, halbherzigen Erklärungsversuchen und Anklagen vermischt.
Der folgende Aufsatz ist ein Versuch, mich der Zeit dieser Auseinandersetzung zu nähern und zwar an einem Punkt, der für mich von entscheidender Bedeutung war, weil ich dort, Ostern 1960, mit 21 Jahren zum ersten Mal einem Menschen begegnete, der als Jude die Schrecken der Vernichtungslager miterlebt und überlebt hatte. Es war die Begegnung mit einer jungen Jüdin meiner Generation, sie war kurz, doch intensiv und ich lernte dabei etwas sehr wichtiges: Erst durch Nähe, Gespräch, Berührung kann Erkenntnis und Verständnis wachsen. Der Verstand ist nicht vom Körper getrennt, wir lernen und denken mit und durch den Körper.
Ganz bewusst habe ich deshalb in meinem Text zwei verschiedene Textsorten gegenübergestellt: Die persönliche, emotional gefärbte Erzählung (kursiv gesetzt) und die kunstwissenschaftliche Analyse. Beide Texte ergänzen einander, korrigieren sich und sind doch auch inhaltlich miteinander verknüpft. Sie stehen für verschiedene Formen der Annäherung: Die künstlerische Arbeit (das Zeichnen) greift sich einzelne Bilder aus dem Strom der Wahrnehmung, um sie zu formen; die kunstwissenschaftliche Forschung versucht Zusammenhänge und Hintergründe zu konstruieren; im Leben verdichtet sich bisweilen die Teilhabe zu exemplarischer Erfahrung. Immer ist das Scheitern impliziert, aber in den Verknüpfungen wird manches deutlicher und intensiver, vielleicht korrigiert es sich auch ein bisschen.


„Oh weh, dass er da nicht fragte!
Das macht mich heut noch traurig für ihn.“

(Wolfram von Eschenbach, Parzival
)


Spuren und Zeichen

Amsterdam 1960: Ich zeichne; tagelang, zuerst an den Grachten, später im Hafen, den Zeichenblock auf den Knien, das Tuscheglas neben mir auf dem Boden. Ich zeichne Häuser, Brücken, Kräne, Kähne, den Turm der Oude Kerk und wieder Fassaden ... Senkrechte und Waagrechte: Mit energischen Strichen die Ordnung der Stadt; keine Menschen.


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