Man kann nachlesen, wie sehr ihn diese Situation und die damit verbundenen bürokratischen Repressalien bedrückt, ja körperlich schmerzhaft zugesetzt haben, auch wenn er dies in seinen kurzen Bemerkungen nonchalant zu überspielen suchte.
Beckmann hatte die nächtlichen Deportationen bemerkt. Er schaute nicht beiseite, wie die meisten seiner Zeitgenossen, sondern schrieb seine Beobachtungen auf. Das war lebens-gefährlich – selbst in der gewählten Abkürzung, wie man heute weiß und damals ahnen konnte
Aber war es nur eine Beobachtung unter anderen, die Notiz eines Künstlers, der es gewohnt ist, genau hinzusehen? In der Tat kommt Beckmann in den von ihm überlieferten Textquellen nicht mehr darauf zu sprechen, auch später nicht, als freies Denken oder Sprechen durch die Befreiung wieder möglich war. Das entspricht aber durchaus seiner Bildsprache, die nahezu durchgehend verschlüsselt und verrätselt bleibt; ein Bild wie die „Hölle der Vögel“ von 1938 mit seinen direkten Anspielungen auf Folter und Hitlergruß ist eher die Ausnahme.*
Doch versteckte Hinweise auf Endzeit, Zerstörung, Tod tauchen immer wieder auf, vor allem in seinen großen Triptychen.
An einer Stelle aber gibt uns Max Beckmann einen sehr deutlichen Hinweis darauf, wie ihn das Schicksal des jüdischen Volkes damals umtrieb und zwar in seiner Illustrationsfolge zum Faust, an der er in den Jahren 1943 und 1944 arbeitete.** Beckmann hat sich darin immer wieder selbst portraitiert und zwar als Faust und als Mephisto.
Diese doppelte Identifikation ist aufschlussreich (sie entspricht wohl auch Goethes Vorstellung von den „zwei Seelen“)*** In einer dieser Federzeichnungen flüstert ihm die Sorge ihren berühmten Monolog ins Ohr. („Wen ich einmal mir besitze - dem ist alle Welt nichts nütze: Ewiges Düstre steigt herunter, Sonne geht nicht auf noch unter; bei vollkommnen äußern Sinnen - wohnen Finsternisse drinnen ... usw.; Faust II, 5. Aufzug, 5. Szene). Die schmalen Brustbilder von Faust und Sorge sind in zwei fensterartige Kästen eingezeichnet, die sehr beengend wirken — ein Kunstgriff, den Beckmann seit den frühen zwanziger Jahren immer wieder verwendet hat. Wachmüller und Zeise assoziieren eine Beichtstuhlszene. Die beiden unregelmäßigen Rechtecke werden durch einen weißen, geteilten Balken voneinander getrennt: Beckmann/ Faust en face, doch nur die linke Hälfte seines Gesichts ist zu sehen; die Sorge im Profil ihm zugewendet. (Von Beichte kann hier also wohl kaum die Rede sein - die Sorge als Beichtende, Faust als Beichtvater?) Das ganze Blatt ist mit einem kräftigen, aber doch nervösen Strich gezeichnet, fast anarchisch. Keine „schönen Linien“! Der energisch herabgezogene Beckmann-Mund signalisiert hier Trotz und Aufbegehren („Doch Deine Macht, o Sorge, schleichend groß, Ich werde sie nicht anerkennen.“). Schon ist sein Auge erblindet — ein wirres Bündel schwarzer Linien.
* Max Beckmann., „Hölle der Vögel“ 1938; Öl a. Leinw. 120x160,5 cm, New York Slg. Richard E. Feigen, Göpel 506
**Die Illustrationsfolge wurde 1943 von Georg Hartmann aus der Bauerschen Schriftgießerei in Frankfurt in Auftrag gegeben; sie erschien erstmals vollständig 1970 im Prestelverlag München mit einem Nachwort von Ernst Holzinger. Aus der Entstehungszeit gibt es mehrere Eintragungen in Beckmanns Tagebuch. Unter anderem: 22.1.44: „Morgens Frust 5. Akt, etwas müde und melancholisch bei furchtbaren Schmerzen ... allerlei Bombensorgen – na ja“; 26.1.44: „Munch ist gestorben – wann komme ich?! – er hat tüchtig lange ausgehalten“ 15.2.44: „Faust“ beendet!.
***Ausführliche Kommentare zur Deutung des Faustzyklus finden sich vor allem in zwei Aufsätzen: Rike Wachmüller, Erika Zeise: Zu einigen Faust-Illustrationen von Max Beckmann. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst. 3F.33, 1982; Françoise Forster-Hahn: A Hero for All Seasons? Illustrations for Goethe's ‚Faust‘ and the Course of Modern German History. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 53, 1990. S.511-535. .. |