Vom papier collé zur Materialaktion
Anmerkungen zur Geschichte der Collage
Michael Cornelius Zepter

(erschienen als Vorwort zum Katalog der Ausstellung Collage, Assemblagen, Objekte in der Hahnentorburg Köln 1981)

Man mag sich fragen, warum es sinnvoll ist, im Rahmen einer Ausstellungsreihe über zeitgenössische Kunst ausgerechnet das Thema "Collage" zu wählen. Ist es nicht längst historisch geworden? Liegen die wichtigen Sammelausstellungen nicht schon fast 15 Jahre zurück?(1) Und wurde nicht auch inzwischen seitens der Kunstwissenschaft das Problemfeld in einer Serie grundlegender Aufsätze und Bücher im wesentlichen ausgelotet? Zudem scheint das Thema "Collage" nicht nur beim Publikum mit Vorurteilen belastet. So hält sich zum Beispiel hartnäckig die Vorstellung, bei der Collage handele es sich um eine "leichte Technik", zu der vorzugsweise Leute greifen, die nicht richtig zeichnen können.(2) Kunsterzieher formulieren das gerne positiv, erhoffen sich für ihre Schüler "Möglichkeiten, kreativ sein zu können, ohne realistische Abbildungsverfahren wie Zeichnen und Malen beherrschen zu müssen."(3)

Derart vordergründig gesehen wäre eine BBK-Ausstellung zum Thema Collage sicher wenig sinnvoll. Deshalb möchte ich versuchen, im Folgenden eine Vorstellung von der Bedeutung zu vermitteln, die dieses Medium für die Kunst des 20. Jahrhunderts erhielt, wie reich und vielgestaltig es sich entfalten konnte. Dabei möchte ich besonders auf die Probleme der Herstellung eingehen, denn es ist zwar schon viel über dieses Thema geschrieben worden, doch wurde die Gestaltungspraxis dabei oft ausgespart.(4)

Das Wort Collage kommt aus dem Französischen und ist abgeleitet von papiers collés, was zu Deutsch geklebte Papiere heißt und vom Sprachgebrauch her zunächst nur einen technischen Vorgang bezeichnet. Aber unter den Erfindungen neuer malerischer und graphischer Techniken zu Beginn unseres Jahrhunderts hat die Collage nicht ohne Grund eine herausgehobene Bedeutung erlangt. Wie bei jeder Erfindung gab es auch hier Vorläufer.(5) Doch als um 1912 Braque und Picasso zum ersten Mal Papierstücke in ihre Bilder klebten, da war das keine Weiterführung einer bis dahin doch weitgehend in spielerischer Bastelei verharrenden Tradition, sondern bedeutete - auch im Bewußtsein der Künstler selbst - einen radikalen Neuanfang. Vor allem von Picasso wurde (als Weiterentwicklung seines in den Demoiselles d'Avignon angegangenen Bildkonzepts) das Einkleben von Papierfragmenten, Zetteln oder Tapetenresten als Möglichkeit zur Konfrontation unterschiedlicher Realitätsebenen erkannt.

Adorno merkt dazu später in seiner Ästhetischen Theorie an: "Der Schein der Kunst, durch Gestaltung der heterogenen Empirie sei sie mit dieser versöhnt, soll zerbrechen, indem das Werk buchstäbliche, scheinlose Trümmer der Empirie in sich einläßt, den Bruch einbekennt und in ästhetische Wirkung umfunktioniert."(6) Die Tat begründet sich also in einer gewandelten ästhetischen Auffassung. Zum einen werden buchstäbliche Trümmer der Empirie, also Wirklichkeitsfragmente - auf welche der Künstler bei der Entstehung keinen Einfluß hatte und die er unter Umständen völlig unverändert übernimmt - in das gemalte Bild eingebracht. Hatte der Künstler bisher in der Malerei sozusagen jeden Zentimeter der Bildoberfläche durch seine Hand kontrolliert und durch sein Temperament zur Einheit gezwungen (Zeichen- oder Pinselduktus), so bricht jetzt die Bildfläche auseinander; Stücke der Außenwelt, Inseln einer anderen Realität treten in harten Kontrast zur Subjektivität des Malers. Durch diese Öffnung wird der Widerspruch zwischen Abgebildetem und Abbild ins Werk selber hineingeholt. Zugleich problematisiert der Künstler damit seine eigene Funktion wie die der Kunst überhaupt. Marcel Duchamp hat diesen neuen Geist etwas später in seiner Theorie der A-Kunst (Anti-Kunst) programmatisch ausformuliert.(7)

Es zeigt sich also, daß hier nicht nur eine neue Technik geboren war, sondern daß mit ihr - und das ist im Grunde bei jeder Technik so - inhaltliche Probleme transportiert wurden. Adorno sieht hier sogleich auch die Verbindung zur Struktur und zum Selbstverständnis unserer technologischen Welt. Er spricht von der "Idee der Montage und der mit ihr tief verklammerten technologischen Konstruktion". Dieser Aspekt der Collage wird sich dann vor allem in den zwanziger Jahren verdeutlichen.(8)

Streng genommen handelt es sich auch hier um eine Form der Arbeitsteilung. Zwar hatte es auch früher schon Arbeitsteams im Bereich der Bildenden Kunst gegeben,(9) doch gab es bis dahin kaum den Versuch, heterogenes Material - welches zudem meist überhaupt nicht dem Bereich der Kunst, sondern dem des Design, der Technik, der Trivialästhetik, der Massenkommunikation oder der Natur entnommen war - miteinander zu kombinieren und montieren. Wenn heute Minimal-Künstler wie Carl Andre oder

Dan Flavin industriell vorgeformte Ausgangsmaterialien ohne weitere Veränderung formal arrangieren, so ist dieser Akt undenkbar ohne das in der Collage entwickelte arbeitsteilige Prinzip.

An dieser Stelle sei eine kurze Bemerkung zur Begriffsbestimmung eingeschoben. Neuerdings wird oft vom Prinzip Collage gesprochen, der Begriff also kategorial ausgeweitet.(10) Ohne auf diese Diskussion hier näher einzugehen, möchte ich im folgenden den Begriff Collage lieber im eingeengten Sinn (als Technik des Klebebildes neben anderen Techniken wie der Assemblage) verwenden und mit Adorno oder auch Gunter Otto vom Montageprinzip als ästhetischer Kategorie sprechen.(11)

Endgültig zum selbständigen Medium ausgearbeitet wurde die Collage dann vor allem von Dadakünstlern, von Max Ernst, von Raoul Hausmann, Hannah Höch, John Heartfield und von Kurt Schwitters. Schwitter's Merzbilder führen die Idee des Fremdmaterials konsequent weiter.(12) In ihnen versammeln sich meist Reste, Abfallprodukte unserer verplanten, bürokratisierten bürgerlichen Alltagskultur: Fahrscheine, Formulare, Gebrauchsanweisungen, Etikette, Lebensmittel- und Eintrittskarten, Anzeigen, Verpackungsmaterialien und Zeitungsausschnitte. Am Anfang steht das Sammeln. Dieses, zunächst absichtslose Vergnügen am gefundenen Ding, am objet trouvé, am Sammeln von anregendem Ausgangsmaterial haben viele Künstler des 20. Jahrhunderts geteilt; in letzter Konsequenz führte es heute zu den Künstlermuseen, zur Künstlerarchäologie oder zur Künstlerischen Feldforschung. Hier wird zurückgegriffen auf eine Elementarerfahrung, wie wir sie von der menschlichen Entwicklungsstufe der Sammler kennen und wie sie wohl jedes Kind auch heute noch irgendwann durchläuft. Schwitters interessierte am Ausgangsmaterial vor allem dessen materielle und formale Eigenschaften, also Oberflächenbeschaffenheit, Farbe und Aufdruck. Die Technik der Collage bot ihm die Möglichkeit, abstrakte Kompositionen abgelöst von ikonischen Bezügen zusammenzustellen.

Schon immer war der Maler abhängig vom Farbmaterial, aber es ist ein großer Unterschied, ob der Farbton auf der Palette ausgemischt oder ob er aus einem vorhandenen Repertoire vorfabrizierter farbiger Papiere ausgewählt wird. Die Farbkombinatorik kann damit jeweils nur Annäherung an ein Ideal bleiben, die klassische Vorstellung vom harmonischen Bild wird ad absurdum geführt. Ähnliches gilt für die Form. Deshalb wurden für Schwitters - der im Grunde immer Farb- und Formbalance anstrebte - Kompositionskriterien wie Farbreduzierung, Formanalogie und Formkorrespondenz wichtig. Das meist strenge, mit einfachen geometrischen Formen arbeitende Zerschneiden der Papiere sowie die Einordnung der Montage in durchgehende Kompositionsgitter (senkrecht - waagerecht; diagonal), förderten einen klaren, vom Konstruktiven her bestimmten Bildaufbau. Die ehemaligen Funktionen und Aussagen des Materials treten zurück gegenüber der bildimmanenten abstrakten Formsprache. Dies gilt auch für die Textfragmente (z.B das Kunstwort Merz aus "COMMERZBANK" herausgeschnitten). Die hier vorgenommene Entsemantisierung führt später - schon im Werk von Schwitters - konsequent zum Lautgedicht.

Die Absichten der Berliner Dadagruppe waren dagegen wesentlich konkreter. Sie entwickelten die Collage vorrangig mit dem Ziel, Inhaltliches auszusagen. ln Weiterentwicklung der Intentionen der Futuristen - bei Änderung der gesellschaftlichen und politischen Leitideen - steht im Zentrum die Auseinandersetzung mit der modernen Technik und der gesellschaftlichen Realität der Weimarer Republik. Adornos Bemerkung zum Montageprinzip findet hier ihre Begründung. Wichtigstes Ausgangsmaterial wird die Fotografie, deren dokumentarischer Charakter Objektivität und Wirklichkeitsnähe suggerierte. George Grosz schreibt 1929 an Franz Roh: "Ja es ist richtig, Heartfield und ich, wir hatten schon 1915 interessante Foto-Klebe-Montage-Experimente gemacht. Wir begründeten damals den Grosz-Heartfield-Konzern (Südende 1915). Das Wort Monteur erfand ich für Heartfield, der dauernd in einem blauen Anzug auftrat und dessen Tätigkeit in unserer Gemeinschaft am meisten an Montieren erinnerte."(13) Um die Erfindung der Fotomontage brach später ein Streit aus. aber sie lag wohl - wie so oft in der Geschichte - in der Luft. Ich selber besitze z.B. eine Foto-Postkarte aus dem 1. Weltkrieg, in die der Hersteller auf den Bahnhofplatz der Stadt Sedan eine Paradekolonne der preußischen Infanterie montierte - der Bahnhof noch voll im französischen Flaggenschmuck(!).(14) Hier beginnt die Verwendung der Fotomontage zum Zweck der Geschichtsfälschung. Grosz, Hausmann, Höch und Heartfield wollten dagegen - durch harte Konfrontation - auf real vorhandener Widersprüche in der Gesellschaft, welche in der Realität gerne kaschiert werden, hinweisen, sie wollten Mißstände anprangern und entlarven. John Heartfield sagt dazu selber: "Bis ins kleinste Detail hinein muß die Fotografie eingesetzt werden, um den Massen den Klassenfeind so zu zeigen, wie er ist."(15)

Damit die beabsichtigte Wirkung auch eintritt, müssen für den Betrachter die einzelnen Details, aus denen die Montage sich zusammensetzt, als Ausschnitte erkennbar bleiben; der Rückgriff auf die jeweils repräsentierte Realität muß möglich sein. Andererseits ist es notwendig, daß die Montage auch sitzt, das heißt, daß die einzelnen Elemente nahtlos wie Teile einer Maschine ineinandergreifen. Dieses Moment unterscheidet die Montagen Heartfields - vor allem die der dreißiger Jahre - von den Collagen Hannah Höchs und Hausmanns, bei denen die Brüche bewußt ausgespielt werden, auch das räumliche Kontinuum zerbricht und z.B. die durch das Zerschneiden sich ergebende technische Besonderheiten (wie die Trennung von Figur und Grund oder das Spiel mit Vorder- und Rückseite) eingesetzt werden zur Verstärkung des Eindrucks von Anarchie und Chaos. Der Schlüsselbegriff für diese Auffassung von Collage heißt Verfremdung; Bertold Brecht, der Heartfields Arbeiten überaus schätzte, hat dieses Prinzip für seine Theorie des Theaters übernommen. Auch wenn Heartfield ausdrücklich von Agitation spricht, so soll der Adressat doch niemals getäuscht, sondern zum Mitdenken angeregt werden. Ähnliches gilt für die Montage-Plakate von Klaus Staeck, welcher Arbeitsformen, ästhetische Prinzipien und Intentionen ästhetischer Kommunikation von Heartfield übernommen und weiterentwickelt hat.(16)

Technisch und formal gesehen lassen sich die Collage-Romane von Max Ernst durchaus mit den Arbeiten Heartfields vergleichen, doch zielen sie inhaltlich in eine völlig andere Richtung.(17) Wo der Monteur verdeutlichen wollte, wollte Dadamax verrätseln, wo Heartfield aktiv ins politische Geschehen eingriff, entführt uns Max Ernst in eine magische Traumwelt. Schon in den noch von jugendlich-aggressivem Nonsens her geprägten frühen Dada-Collagen, mit ihrer starken Verwandtschaft zu Duchamps großem Glas, den Maschinen-Collagen von Picabia und Man Ray, oder den absurden Erfindungen des Martial Canterel in Raymond Roussels Schlüsselroman Locus Solus, wird bei aller Betonung des Montageprinzips eine spielerische Poesie deutlich, die sich unter dem Einfluß des Surrealismus zunehmend verstärkt. ln den Collage-Romanen Ende der zwanziger Jahre finden wir dann eine völlig gewandelte Auffassung.(18) Das Ausgangsmaterial ist einer vergangenen Epoche entnommen: Stahl- und Holzstiche des 19. Jahrhunderts, aus Journalen wie dem Magasin Pittoresque, mit Darstellungen phantastischer oder merkwürdiger Illustrationen; Erfindungen, Landschaftsschilderungen; archäologischer Ausgrabungsstätten; bizarrer Flora und Fauna; bürgerlicher Kriminalaffären usw. Dies Material wird nicht zerstört, sondern im Fragment erhalten, sorgfältig entlang der Konturen ausgeschnitten und - bei Kaschierung der Schnitt- und Klebestellen - sehr sauber zu neuen, auf den ersten Blick einheitlich erscheinenden Bildwelten zusammengefügt. Die Montage wird nicht demonstriert, sondern versteckt. Bereits um 1920 schreibt Ernst in einem Brief an Tristan Tzara: "Können sie dem Klischierer beibringen, daß er die Nähte bei den geklebten Arbeiten in der Reproduktion verwischt (damit das Geheimnis der Fatagaga bewahrt bleibt?)."(19) In trügerischer Harmonie präsentieren die so entstandenen Visionen eine geschlossene, möglicherweise existente Welt und eröffnen damit fast unmerklich den Schritt ins Phantastische. Die Filme von Dalí und Buñuel haben später diesen Kunstgriff in das neue Medium übertragen.(20) Auch wenn zeitgenössische Künstler des Phantastischen die Technik der Collage seltener verwenden, so hat sich doch die entsprechende Methode - Kombinatorik bei Verschleierung der Montage - weit verbreitet. Als Beispiele seien die zusammengesetzten Stadtlandschaften von Ackermann und Kreidt genannt.

Im Verlauf der zwanziger und dreißiger Jahre hatte sich die Collage zu einer der wichtigsten Techniken entwickelt; längst war sie in die dritte Dimension als Assemblage, bei Schwitters in den Merzbauten sogar schon zur Raumgestaltung, zum Environment erweitert worden. Mit ihr verbundene Aspekte - wie Materialeigenschaft, Sammeln, Konstruktion, Verfremdung - ließen sich mit wechselnder Akzentuierung gleichermaßen für abstrakte, realistische oder phantastische Intentionen umformen. Das Interesse an experimentellen Arbeitsformen, die Ablehnung des Originals zugunsten variabler und multipler ästhetischer Produktion, die Betonung schöpferischer Innovation, die Skepsis gegenüber klassischer Harmonie, die Bemühung um Offenheit des Kunstwerks, um Grenzüberschreitung - diese und andere Ziele der Avantgarde fanden und finden in der Collage und den ihr verwandten Techniken ein adäquates Medium.

Für die Konstruktivisten ergab sich mit ihr eine hervorragende Methode zur empirisch-experimentellen Kontrolle der Komposition. Cézanne war noch auf die lineare Konstruktion angewiesen, und bei Mondrian führte die Bemühung um konstruktive Balance zum senkrecht-waagerechten Liniengewirr, aus dem dann die endgültige Form ausgewählt werden konnte. Doch ließ sich diese Trial-and-Error-Methode viel einfacher und präziser mit Hilfe der Collage anwenden. Nicht von ungefähr werden Collagetechniken von Josef Albers und Lazlo Moholy-Nagy in die Bauhausdidaktik eingebracht. Albers empfiehlt die Farbpapiercollage zur empirischen Kontrolle von Farbeigenschaften.(21)

Die Grenzüberschreitung der Malerei hin zur Architektur (El Lissitzky), die Aufhebung der Grenzen zwischen Skulptur und Maschine (Tatlin), die Mechanisierung der Bildherstellung (Berlewi), die Entwicklung neuer Typographie (Schwitters) - immer wieder offenbart sich die Fruchtbarkeit des Prinzips.

Das Interesse an der Ausdrucksbewegung in den vierziger Jahren führt zwar nicht zum Verschwinden aber doch zu einem Zurücktreten der Montagetechniken. Doch bald werden auch im Ausdrucksbereich neue Perspektiven der Collage entdeckt. So eröffnetete das Zerschneiden und Zerreißen gestrichener Papiere neue Möglichkeiten, die Dynamik des spontanen Pinselstrichs abrupt zu kappen und in der Kombination den Rhythmus der Pinselführung synkopenartig zu brechen. Durch solche Infragestellung des eigenen Temperaments erweiterten sich zugleich die kompositorischen Möglichkeiten.(22) Die Konfrontation der malerischen Geste mit geometrischen Formen (Hans Hoffmann), oder das Ausschneiden von Farbflecken bei Verstärkung der Farbkante durch die Schnittkante zwecks Monumentalisierung einzelner Bildzeichen (Dubuffet), waren weitere Versuche, mit Hilfe der Collage das latente Kompositionsproblem zu bewältigen.

Mit Neo-Dada der fünfziger Jahre, mit nouveau realisme in Europa, und Pop-Art in Amerika und England erfolgte dann der zweite große Durchbruch. Marcel Duchamp, Man Ray und Picabia, Kurt Schwitters und die russischen Konstruktivisten werden von der jungen Künstlergeneration wiederentdeckt, in Rebellion gegen eine selbstgefällig und langweilig gewordene totale Abstraktion. In den erneut aufgegriffenen Collage- und Assemblagetechniken fand man vielfältige Zugriffsmöglichkeiten auf die Realität, ohne auf mimetische Verfahren in Malerei und Zeichnung angewiesen zu sein.

Es würde den Rahmen dieser Einführung sprengen, wollte man lückenlos die Weiterentwicklung der Collage- und Assemblagetechniken und die Entfaltung des Montageprinzips in den fünfziger und sechziger Jahren schildern. Ich muß mich damit begnügen, unter Verzicht auf Vollständigkeit exemplarisch die wesentlichen Neuerungen zu beschreiben.

In einer Übergangszeit steht die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten und die Annäherung an die unmittelbar erlebte Alltagswelt bei Fortführung der formalen Intentionen im Vordergrund. Im Bereich der Monochromen Malerei und der Texturologien bringt die Bemühung um lebendige Oberflächenstruktur eine Fülle neuer Materialien ins Tafelbild. Wenn Jean Dubuffet Blätter oder Schmetterlingsflügel collagiert, Alberto Burri Eisenplatten zusammenschweißt oder Säcke zusammennäht, Werner Schreib Gegenstände stempelartig in weiche Grundiermasse drückt oder Eduardo Paolozzi aus Schrotteilen seine frühen Skulpturen zusammensetzt, so steht damit weniger die Konfrontation gegensätzlicher Materialeigenschaften im Zentrum des Interesses als vielmehr die Gestaltung einer von der Mikrostruktur her bestimmten, lebendig vibrierenden Oberfläche mit starkem Tastreiz. Oft bilden die Nähte oder Klebestellen die einzigen Kompositionselemente. Einige Neue Realisten wie Arman mit seinen Akkumulationen oder César mit seinen zusammengepreßten Autowracks, erweitern die Texturologien hin zur Skulptur. Ausgangsmaterial wird der Schrott und Müll unserer Überflußgesellschaft, dessen Materialeigenschaften hier allerdings vor allem ästhetisch goutiert werden: Erst in der Verrottung und Verrostung erhalten die seriell fabrizierten Industrieprodukte einen malerisch-sinnlichen Reiz.

Rotella, Hains, Villeglé und Dufrêne zielen in ihren Decollagen auf ähnliche Erfahrungen: Plakatwände - allgegenwärtige Signale unserer auf schnellen Konsum hin orientierten Wegwerfgesellschaft - werden erst schön durch Zerstörung, sei es durch Verwitterung, durch spielerischen Destruktionstrieb der Passanten oder durch bewußten Eingriff des Künstlers. Vostell griff die Idee der Decollage auf und erweiterte sie zu seinem zentralen Kunstbegriff. Jean Tinguely verbindet in seinen Schrottmaschinen surrealistisches objet trouvé mit den Prinzipien Montage und Bewegung. Es entsteht eine Art monströser Maschinendinosaurier, die im Gegensatz zu unserer immer perfekter funktionierenden Technologie völlig Nutzloses produzieren: Mit ruckhaften, asymetrischen, bisweilen sinnlos hektischen Bewegungen, erzeugen sie in brutaler Kakophonie eine ganz unfuturistische Lärmmusik, ahmen krakelig den sinnlos gewordenen Malgestus der Tachisten nach oder zerstören sich gar selbst.

In Amerika hatte Robert Rauschenberg, nachdem er 1949 am Black Mountain College zusammen mit John Cage und Merce Cunningham erste Happenings ausprobiert hatte (u.a. anläßlich eines Satie-Festivals!), ab 1953 in New York die Collage für sich neu entdeckt: "Ich begann Collagen zu machen, ohne das Wort je gehört zu haben. lch hatte schon eine ganze Menge davon hergestellt, als ich eines Tages eine Collage sah, die Picasso 1924 gemacht hatte, ein Jahr, bevor ich geboren wurde ..."(23)

Als Malgründe benutzte Rauschenberg, was ihm gerade zur Verfügung stand: Pappen, Bretter, einmal sogar eine alte Steppdecke. Darauf klebte er Comics und Reproduktionen und übermalte sie in seiner wilden, zu Beginn fast anarchischen Malweise (er hatte nach eigenen Aussagen zunächst nur mit den Händen gemalt, ehe er bei Albers malerische Disziplin verordnet bekam). Die Verbindung von Aktionsmalerei und Collage erwies sich in der Folge als sehr fruchtbar - nicht nur für Rauschenberg selbst, sondern auch für andere Künstler wie Jasper Johns, Jim Dine oder Larry Rivers. Der Einfluß von Rauschenberg war groß, in Europa vor allem nach seinem Biennale-Preis von 1964. Bald schon wuchsen Rauschenbergs Bilder über den Rahmen hinaus. Er klebte Spiegel ein, um den umgehenden Raum in die Bilder hineinzuholen oder montierte Glühlampen, um "den Bildern eine eigene Lichtquelle zu geben". Die Objekte wurden immer größer bis hin zu wandfüllenden Assemblagen, die Rauschenberg Combine Paintings nannte.

"Die Beschaffenheit der Materialien, die ich für meine Bilder verwendete, wurden so sperrig, daß es unmöglich war, sich vorzustellen, wie sie darin untergebracht werden sollten. Es war ganz klar zu sehen, daß es überhaupt keinen Sinn hatte, sie flach an die Wand zu hängen, und das war der Anfang der Combines."

In der Ausstellung "This is Tomorrow", London 1956, hatte der englische Werbegrafiker und Künstler Richard Hamilton eine Collage gezeigt mit dem witzigen Titel: "Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?" Diese Arbeit - in der zum ersten Mal auch das Wort Pop auftaucht und die sich vor allem aus Teilen von Werbeprospekten und Illustriertenfotos zusammensetzt - wird heute als eines der Schlüsselwerke der Pop-Art angesehen. Das Interesse an den Produkten des Werbedesign und der Massenkommunikation führte damals nicht nur geradezu zwangsläufig zum Aufgreifen der ready mades, sondern - sobald es um Fragen der Komposition und des Arrangements ging - auch zur Collage und Assemblage.

Schon bald verschwinden aus den Bildern der Popkünstler die spontanen Malgesten und Tropfspuren; eine kühle, an der Ästhetik der Werbeindustrie orientierte Malweise setzt sich durch. Die im Werbedesign inzwischen ebenfalls zur Bedeutung gelangte Montage wird übernommen. So montiert zum Beispiel Tom Wesselmann in seinen Bildobjekten die sexuellen Bildsignale der Werbung zu riesigen Stilleben zusammen. Andy Warhol reiht Klischees oder Siebdruckreproduktionen von Illustriertenfotos aneinander - die monotone Wiederholung übernimmt die ästhetische Wirkung der seriellen Massenproduktion. In Chelsea Girls überträgt Warhol dieses Prinzip in den Film: Ausschnitte einer banalen Alltagswirklichkeit werden in Multiprojektion gegeneinander gestellt. In ihrer endlosen Ausdehnung und starren Kameraeinstellung gleichen diese Filme im Grunde mehr bewegten Bildtafeln. Warhol hat - das ist heute deutlicher geworden - mit dieser Umformung der Montage nicht die Monotonie industrieller Massenproduktion oder die Bilderflut der optischen Massenmedien entlarven wollen. Sein Verhältnis diesen Erscheinungen gegenüber war wohl immer schon affirmativ. Kritische Ansätze wurden möglicherweise von außen her, zum Beispiel vom Arbeitsteam der Factory eingebracht. Andy selber hat sich mit kühl versteinertem Lächeln immer wieder allen Versuchen entzogen, ihn zu irgendeinem Standpunkt zu überreden: "I never read, I just look at pictures".(24) Natürlich haben aber Aussagen wie: "all is pretty", "machines have less problems", "I'd like to be a machine, wouldn't you?" oder "I want to be plastic" ihre doppelte Interpretationsmöglichkeit und die kritische Auslegung wurde in fruchtbarem Mißverständnis von vielen jungen Europäern als Programm übernommen.

Schließlich bleibt noch die Ausweitung des Montageprinzips über die Grenzen der Malerei und Skulptur hinaus zu erwähnen. Von der Raumgestaltung, vom Environment war schon die Rede - es wird in den sechziger Jahren ebenfalls wiederentdeckt und zur eigenen Gattung ausgebaut von Künstlern wie Joseph Beuys, Ed Kienholz, Paul Thek oder Jannis Kounellis. Bei Beuys und Thek taucht als neues Arbeitsprinzip die Bricolage auf, die Bastelei der Naturvölker (Levy-Strauß); damit ist die Fähigkeit gemeint, aus allen nur denkbaren Materialien je nach Bedürfnis in spielerischer Kreativität Neues zu entwickeln. Die Hippies und alternativen Landkommunen haben diese Verfahren als eine Möglichkeit zur neuen Einfachheit übernommen. Ihre Erfahrungen in der Landschaftsgestaltung oder im Häuserbau fließen in den siebziger Jahren immer wieder in die Kunstproduktion ein. Daneben gibt es inzwischen aber eine Alternativkultur mit so erfrischenden Erscheinungen wie die Kleber von San Francisco, die ihre Motorräder zu bizarren Pop-Assemblagen umfunktionieren.

Die Grenzüberschreitung hin zum Theater wird in den Happenings und den Aufführungen der Fluxus-Künstler deutlich. In diesen Inszenierungen mischen sich collageartig Dingfragmente, Sprachfetzen, Ausdrucksgesten, akustische Wirklichkeitsausschnitte mit Klängen, Geräuschen und visuellen Erscheinungen der Massenmedien. Nicht von ungefähr begreift Allan Kaprow das Happening als vorläufigen Endpunkt in der "nahezu logischen Entwicklung" des Prinzips Collage."(25) Ähnliches läßt sich zu Otto Mühl´s Materialaktionen sagen, wobei hier noch der Ekel und die Berührungsängste des Publikums gegenüber tabuierten Materialien (Kot, Blut, Sperma) bewußt und aggressiv ausgespielt werden.

In der Fluxusmusik bringt die Anwendung des Montageprinzips nebenbei auch die Entwicklung neuer Geräusch- und Klanginstrumente. Parallel hatte schon Ende der vierziger Jahre Pierre Schffer und sein Studio de musique concrète de la R.T.F. die elektronische Klangcollage aus Umweltgeräuschen in die Musik eingeführt. Angeregt durch die elektronische Musik bringen die Beatles Umweltgeräusche in elektronischer Verfremdung als Montage in die Popmusik ein.

Im Bereich der Literatur waren Lautgedicht und Sprachcollage schon von Dada vorweggenommen worden; bei James Joyce wird die Montage heterogener Sprachfragmente im Ulysses geradezu zum klassischen Vorbild und zur Anregung für Künstler aller Gattungen. In seinem Tagebuch Fluchtpunkt aus der Emigrationszeit geht Peter Weiss mehrfach auf die Collage ein und schildert an einer Stelle das Projekt des Hieronymus - ehemals "Mathematiker und Erbauer von Rechenmaschinen" - als "ein Werk, das nie zu Ende geführt werden sollte": "Die Arbeit, die langsam unter seinen Händen wuchs, bestand aus der Erbauung eines Buches. Er schrieb es nicht, mit Worten, die er erdachte, er baute es auf, aus gefundenen Bruchstücken. Das Schriftbild, das auf den riesenhaften Blättern entstand, enthielt unzählige kleine Einheiten, die er aus den Bergen von alten Büchern und Zeitschriften, die den Raum zu einer zerklüfteten Landschaft machten, ausgeschnitten hatte ..."(26)

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, welch hervorragende Bedeutung die Collage, die Formen ihrer Erweiterung und das mit ihr verbundene Montageprinzip für die gesamte Kunst des 20. Jahrhunderts besaß (und bis auf den heutigen Tag besitzt - blickt man in die Akademien oder die jüngsten Ausstellungen der heranwachsenden Künstlergeneration). Die reine Form der Collage und Assemblage taucht heute allerdings nur noch selten auf, wir können inzwischen eine ausgesprochene Methodenvielfalt feststellen, bei der traditionelle, und von der Avantgarde entwickelte, Techniken und Arbeitsformen wie selbstverständlich ineinander fließen. Wir sind heute, vorbereitet durch Künstler wie Rauschenberg und Beuys, auf einer neuen Stufe angelangt: Techniken sind nicht mehr Markenzeichen, sondern je nach Vorhaben frei zu wählende Ausdrucksmittel. Das Prinzip Montage allerdings erweist auch auf dieser Stufe seine ungebrochene Gültigkeit. Dies kann wohl auch garnicht anders sein; denn Grundstrukturen unserer Gesellschaft und die mit ihnen verbundenen individuellen Erfahrungen - also Arbeitsteilung, Entfremdung, Verdinglichung, Reizüberflutung - dauern nach wie vor an.


Anmerkungen:


1. München, Frankfurt 1967, Nürnberg 1968

2. Jüngst erst äußerte Klaus Staeck in einem Interview in Heidelberg diese Vermutung, gab aber beim Nachfragen zu, daß diese Annahme nur für den Anfang gilt; genau genommen ist die Collage um nichts leichter als andere Techniken auch. In diesem Zusammenhang ist auch ein Beitrag aus dem Arbeiterfotografen interessant, in dem es u.a. heißt: "Die Montagen, wie sie z.B. der bekannte proletarische Künstler John Heartfield geschaffen hat, sind bei aller scheinbaren Einfachheit das Ergebnis langjährigen Spezialstudiums ... es genügt eben nicht, daß man mehrere Bilder zusammenklebt und das ganze eine Fotomontage nennt." (Zitiert in: R. März. John Heartfield, der Schnitt entlang der Zeit. Dresden 1981, S.184)

3. Klaus Eid, Harkon Ruprecht. Collage und Collagieren. München 1979, S.13. Das Buch kann man übrigens für den Kunstunterricht empfehlen - es ist mit Sachkenntnis und Phantasie geschrieben.

4. Es gibt Ausnahmen. Besonders hervorzuheben ist die diesbezüglich sehr gründliche Arbeit von Werner Spies. (Werner Spies. Max Ernst. Collagen; Köln 1975)

5. Vergl.: Herta Wescher. Die Geschichte der Collage. Köln 1974, 1. Kapitel.

6. Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt 1972, S.232

7. Vergl.: Hans Richter. Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964, S.94-96

8. Adorno, a.a.O. S.233

9. Es ist ein Unterschied, wenn z.B. in der spätmittelalterlichen Malerei Handwerker und Künstler zusammenarbeiten, wobei Malerei, Goldgrund und geschnitzter Rahmen von verschiedenen Meistern hergestellt werden; eine Absprache ist dabei immer möglich, eine übergreifende Ästhetik gegeben.

Doch zwischen dem Scharnier, der Schuhsohle, dem Briefsiegel und dem Straßenbahnfahrschein auf Kurt Schwitters Merzbild von 1921 (14/6 "Schwimmt") liegen Welten - vom Herstellungsprozeß aber auch von der Ästhetik her gesehen.

10. Vergl.: Franz Mohn, Heinz Neidel (Hrsg). Prinzip Collage. Neuwied/Berlin 1968

11. Vergl.: Gunter Otto. Kunst als Prozeß im Unterricht. Braunschweig 1969, 2.erw. Aufl. S.43-38

12. Vergl. Werner Hofmann. Von der Nachahmung zur Erfindung der Wirklichkeit. Köln 1969, S.75. Hofmann zitiert dabei Umberto Boccioni, der schon 1912 forderte: "Wir behaupten, daß auch zwanzig verschiedene Materialien in einem einzigen Werk zur Erscheinung der bildnerischen Emotion verwendet werden können Wir zählen nur einige wenige davon auf: Glas, Holz, Pappe, Eisen, Zement, Roßhaar, Leder, Stoff, Spiegel, elektrisches Licht."

13. zitiert in März: a.a.O. S.29

14. Verlagsanstalt Schaar & Diethe, Trier, Nr. 369; die Karte trägt einen Feldpoststempel vom 30.6.1915

15. aus S.Tretjakow/ S.Telingater. John Heartfield - Eine Monographie. Moskau 1936;

zitiert in Übersetzung in: März, a.a.O., S.275

16. Vergl. das Interview mit Klaus Staeck in März: a.a.O., S. 539 ff

17. Vergl.: Spies, a.a.O., S. 24-25

18. "La femme 100 têtes" (1929), "Rêve d'une petite fille qui voulut entrer au Carmel"(1930), "Une semaine de bonté" (1934)

19. abgedruckt in Spies: a.a.O. S. 237

20. Die Montage spielt auch theoretisch im Film eine ähnlich signifikante Rolle wie bei der Collage. Schon 1923 schrieb Eisenstein den Aufsatz "Montage der Attraktionen" zunächst als Theatertheorie; ein Jahr später folqt dann "Montage der Filmattraktionen". Vergl. auch Christian Metz. Semiologie des Films, München 1972, S.52-54

21. Josef Albers. Interaction of Colour. Köln 1970, S.30-32

22. Vergl. dazu Emilio Vedova, (zitiert in: Jürgen Claus. Theorien zeitgenössischer Malerei. Hamburg 1963, S.75): "Mein Atelier barst von lebendiger reiner Farbe. Angestrichene Papiere in den reinsten Farben bedeckten jetzt die Atelierwände, und überall auf dem Fußboden explodierten Fetzen farbiger Papiere. Stunden um Stunden konstruierte ich meine Bilder mit ausgeschnittenen Papieren."

23. Die Zitate sind einem Fernsehfilm von Michael Blackwood entnommen : Robert Rauschenberg. Retrospektive. WDR III vom 2.11.1979

24. Zitate von Warhol aus dem Katalog: Andy Warhol. Moderna Museet. Stockholm 1963

25. Vergl.: Rainer Wick. Zur Soziologle der Intermediaren Kunstpraxis. Köln 1975, S.47

26. Peter Weiss. Fluchtpunkt. Frankfurt 1967. 3.Aufl. S.139