„Ich hab kein Glück. Zuerst war alles gut,
Sie saß auf meinem Knie und war ganz Glut,
Dann ist sie mit dem Pierrot fortgelaufen,
Und ich, vor Wut, fing wieder an zu saufen.“
(Hermann Hesse 1928)

 

II/7 Poetischer Karneval

„Ich hab kein Glück“; mit diesem Seufzer beginnt ein Gedicht Hermann Hesses, das er unter dem Titel „Armer Teufel am Morgen nach dem Maskenball“ 1928 veröffentlichte. Damals hatte er vor nicht allzu langer Zeit die Welt des Karnevals entdeckt, als er an seinem Roman Der Steppenwolf arbeitete. Die Erfahrung der für ihn völlig neuen und überwältigenden Verkleidungs- und Festkultur verjüngte ihn geradezu und beflügelte seine Phantasie. Im Jahr 1926, noch unter dem frischen Eindruck seiner „Entdeckung“, schrieb er an den Freund Hermann Hubacher:

„Caro Ubaker
Da ist der vergessene Groschen für das Billet.
Aber gell, wir gehen auf den nächsten Ball wieder miteinander – so bald wie möglich bitte. Nur heute bin ich leider durch einen heftigen Anfall von marasmus senilis verhindert.
Aber wenn die Fastnacht vorbei ist, werde ich mich umbringen, aus Kummer darüber, daß ich ein so überlebensgroßer Trottel war und mein ganzes Leben vergeudet habe. Ich war ein richtiger Foxtrottel , daß ich mich dreißig Jahre mit den Problemen der Menschheit abgemüht habe, ohne zu wissen was ein Maskenball ist. Ich glaubte, die Leute seien alle ungefähr so wie ich. Hätte ich gewusst, wie einfach, dumm und lieb die Herren Menschen sind, so wäre mir viel erspart geblieben. Aber was habe ich auch für Freunde, dass sie mich Jahrzehnte lang so haben herumlaufen lassen!
Aber, Hubacher, alles soll verziehen sein, wenn du mich bald wieder auf einen Ball mitnimmst. Heute tot, morgen rot sei unsere Devise.
Herrgott, wenn ich bloß noch wüsste, wie das schöne, schöne Mädchen gestern geheißen hat. Lieber Gott, lass sie mich wiederfinden! Ich muss noch einen Fox mit ihr trotten, und jenen holden Tanz, den man mit Recht Wonne-Stepp nennt.
Es umarmt dich unter bitteren Freudetränen dein heute schwerkranker H. H.
Unterhaltungsschriftsteller.

Freud und Leid lagen also nahe beieinander, und für Hesse kam zu Liebesfreud und Liebesleid noch seine Gicht, die ihn schon damals plagte. Er musste erst fünfzig Jahre alt werden, um den Karnevals zu entdecken, aber dann stürzte er sich in das Abenteuer mit Energie und Leidenschaft; nahm auf seine alten Tage sogar noch Tanzunterricht, um alle diese neuartigen Tänze zu lernen. Im Steppenwolf steckt eben nicht nur die Steppe, sondern auch der Wonne-Stepp, den Hesse gleich mit doppeltem „p“ schrieb. Doch bald gesellten sich zur Begeisterung auch Enttäuschung, Skepsis und die Erfahrung, dass jedes Glück vergänglich ist: „Der ‚Mann von fünfzig Jahren‘ hat wenig Grund, Glückwünsche einzuheimsen. Er pflegt mehr mit der Angst vor dem Altern und dem Sterben beschäftigt zu sein als mit der Freude am Festefeiern“, so bemerkt Hesse im Vorwort zu einer Gedichtsammlung mit dem bezeichnenden Titel Krisis. Das ging so weit, dass er sich mit Selbstmordgedanken herumschlug.

Im Roman Der Steppenwolf hat Hesse diese seine innere Zerrissenheit zum Thema gemacht: den ausweglosen Zwiespalt zwischen vernünftiger Humanität und animalischer Sehnsucht nach Lust. Dies kennzeichnet den Zwiespalt des Künstlers zwischen Konvention und Freiheitsdrang, zwischen Natur und Kultur, Bürgerlichkeit und Boheme. In dessen Seele wird der Dualismus von zwei Subjekte verkörpert: dem Menschen und dem Wolf; ein einsamer, alter Wolf, mit trübem Auge und grauem Haar am Schwanz(!):

„Ich Steppenwolf trabe und trabe,
Die Welt liegt voll Schnee,
Vom Birkenbaum flügelt der Rabe,
Aber nirgends ein Hase, nirgends ein Reh!“


Der menschliche Teil seiner Seele sehnt sich nach konventioneller Schönheit, nach der Welt der Sitten und gesellschaftlichen Ordnungen. Dem steht seine wilde Wolfsseele entgegen. Hesse kommt zu dem Schluss, dass die Spannung nicht aufgelöst werden kann, nicht in dem unversöhnlich dualistischen Widerspruch, den schon Goethe im Faust mit dem Bild der zwei Seelen formulierte. Die Lösung sieht er zunächst in der Einsicht, dass die menschliche Natur nicht dualistisch ist, sondern pluralistisch: In unserer Seele mischen sich hundert, wenn nicht tausend Möglichkeiten des Lebensentwurfs. Das einigende, versöhnende Band ist dabei der Humor, diese Fähigkeit, die inneren Widersprüche aus der Distanz zu betrachten und zu relativieren:

„Einzig der Humor, die herrliche Erfindung der in ihrer Befreiung zum Größten Gehemmten, der beinahe Tragischen, der höchstbegabten Unglücklichen, einzig der Humor (vielleicht die eigenste und genialste Leistung des Menschentums) vollbringt dies Unmögliche, überzieht und vereinigt alle Bezirke des Menschenwesens mit den Strahlungen seiner Prismen. In der Welt zu leben, als sei es nicht die Welt, das Gesetz zu achten und doch über ihm zu stehen, zu besitzen, ‚als besäße man nicht‘, zu verzichten, als sei es kein Verzicht – all diese beliebten und oft formulierten Forderungen einer hohen Lebensweisheit ist einzig der Humor zu verwirklichen fähig.“

In dieser Situation öffnete das konkrete Erlebnis des Karnevals – das Feiern, das Tanzen, die Verkleidung – einen Ausweg. In der Realität des durchlebten Fests konnte Hesse die Probleme, die ihn umtrieben, spielerisch lösen. Das hört sich leichter an, als es ist. Im Roman beschreibt der Dichter den Weg, der ihn, den Steppenwolf, vom passiv Beschreibenden ganz vorsichtig, zunächst noch gehemmt, aber dann immer drängender und leidenschaftlicher in die Freiheit des aktiv Handelnden führt. Die Geschichte wird dabei zur phantastischen Parabel.

Die Realität der Zürcher Künstlerfeste erfuhr Hesse dagegen prosaischer. Es ist reizvoll, dieses Pendeln zwischen Wirklichkeit und Phantasie, zwischen realer Lebensbewältigung und probeweisem Ausloten utopischer Gesellschaftsformen im Raum der Poesie zu vergleichen und aufeinander zu beziehen. In diesem Sinne ist Steppenwolf nicht nur ein Schlüsselroman für den modernen Menschen und Künstler, sondern auch ein aufschlussreicher Essay zur Funktion der damaligen Fest- und Verkleidungskultur. Was die reale Seite anging, so stürzte sich Hesse, nachdem er einmal von der für ihn bis dahin verbotenen Frucht trivialer Unterhaltung gekostet hatte, (folgerichtig unterschrieb er den Brief an seinen Freund Hubacher mit „H. H., Unterhaltungsschriftsteller“), mit neu erwachter Energie ins Getümmel der Bälle.

In Zürich waren das damals vor allem die von Künstlern prächtig ausgestatteten Kostümbälle des Nobelhotels Baur au Lac, auf denen sich die Berühmten des Theaters, der Kunst und der Dichtung mit den Reichen und Schönen mischte. Später hat der Schweizer Fotograf Jakob Tuggener die Atmosphäre dieser Bälle in stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Fotografien festgehalten.

Der Ball, an dem Hesse 1926 teilnahm, war von seinem Freund Jean Arp ausgestattet worden. Es gibt Schilderungen dieser Ballnacht, unter anderem vom Bildhauer Hermann Hubacher. Es existiert ein Plakat, schließlich auch noch ein Foto von der schönen Julia Laubi-Honegger im Kostüm. Mit ihr soll Hesse den Wonne-Stepp getanzt haben. Hesse muss damals richtig berauscht gewesen sein im Gefühl seiner Wiedergeburt. Hubacher erinnert sich:

„Hesse mit etwas sauersüßer Miene schaute sich den Rummel eher skeptisch an, bis eine reizende Pierrette ihn erkannte und sich mit Schwung auf seine Knie setzte ... Der große Tanzsaal war verdunkelt, und in seiner Mitte schwebte und drehte sich eine große angeleuchtete, mit Hunderten von kleinen Spiegeln besetzte Kugel über uns und warf ihre Lichter wie kleine Blitze auf die tanzenden Paare. Die Orchester spielten die letzten Schlager, alles summte mit, und ab und zu erspähte man bekannte Gesichter im Dämmerlicht, es war ein tolles Treiben. Papierschlangen zischten durch die Luft und sandten ihre farbigen Signale von Tisch zu Tisch, von Paar zu Paar. Aber wo ist Hesse? Ist er uns davongelaufen? Es ging schon gegen Morgen, als wir alle müde bei unserem Tisch in die Sessel sanken, und Bacchus allein hatte das Wort. Da siehe, kommt in aufgeräumtester Laune unser Hesse wieder, frischer als wir alle springt er auf den Tisch und tanzt uns einen ‚Wonnestep‘ vor, dass die Gläser klirren. Dann schreibt er Haller und mir einen Vers auf die nicht mehr steife Hemdenbrust, und Schoeck setzt die Noten dazu. Noch nie habe ich eine so stolze Brust mit nach Hause getragen. Das Fest klang aus, wie es begonnen hatte, der alte Freundeskreis war wieder beisammen und wanderte zu einer Mehlsuppe in die Kronenhalle.“

Sieben Jahre lang, von 1925 bis 1932, zog Hesse jeden Winter aus seiner kaum zu heizenden Wohnung im Tessin nach Zürich, um dort in wärmerer Umgebung die Folgen seiner Gicht zu kurieren. Er wohnte damals im obersten Stock des Hauses Schanzengraben 31, besuchte Konzerte, Theater- und Opernaufführungen, saß mit seinen Freunden, dem Komponisten Othmar Schock, dem Maler Ernst Morgenthaler, dem Bildhauer Hermann Hubacher, dem Ehepaar Fritz und Alice Leuthold und anderen Geistesverwandten im Café Odeon. Nach St. Moritz und Arosa fuhr er zum Schifahren oder nach Baden-Baden zur Kur. Auch die Beziehung zu der jungen Archäologin und Kunsthistorikerin Ninon Dolbin, die seine dritte Frau werden sollte, machte diese Jahre zu einer glücklichen Zeit. In den Sommermonaten lebte er dann als Einsiedler in Montagnola und schrieb mit schmerzenden Gichtfingern an seinen Erzählungen. Das alles fand im Steppenwolf seinen Niederschlag. Den Höhepunkt des Romans bildet ein Maskenball, auf dem der Held Harry Haller – selbst ohne Maske und im festlichen Frack, aber umtanzt von maskierten Menschen – in den Wirbel einer unwirklichen, phantastischen Inszenierung hineingezogen wird. Das Ereignis war geheimnisvoll angekündigt worden:

„Anarchistische Abendunterhaltung – Magisches Theater –
Eintritt nicht für jeden – nur für Verrückte!“


Der Hinweis „nur für Verrückte“ spiegelt die Vorurteile, die sich für die bürgerliche Gesellschaft mit modernen Künstlerfesten verbanden. Auch wenn „Steppenwolf“ Harry vorher ein „Erziehungsprogramm“ absolvieren muss – Hermine, sein weibliches Alter Ego inszeniert es mit freundlicher Unterstützung der schönen, sinnlichen Maria und des nicht minder attraktiven Jazzsaxophonisten Pablo –, so stolpert er in das Abenteuer doch wenig vorbereitet. Sicher, er hat tanzen gelernt, hat Versuche unternommen, der leichten Muse des Alltags eigene Reize abzugewinnen, war auch durch die Schule der Liebe gegangen, aber der alte schizophrene Geist brodelt immer noch in ihm. Es gelingt ihm zunächst nicht, sich vom Hochmut des einsamen Künstlerwolfs zu befreien; vor allem bleiben Todessehnsucht, Drang zum Selbstmitleid und die Unfähigkeit zu lachen.

Auf dem Ball durchtobt er, nach anfänglichem Zaudern, eine wilde Tanz- und Liebesnacht – Hesse gelingt da eine wunderbare, ins Phantastische gehende Schilderung der Atmosphäre der Karnevalsfeste dieser Zeit. Doch mit dem Höhepunkt und Ende des Fests beginnt eine zweite Phase. Hineingezogen in ein magisches Theater unter der Regie Pablos, in ein vielfältig gebrochenes Spiegelkabinett verborgener Verdrängungen und Gelüste, in ein Labor der Schrecken und Verbrechen, versagt er erneut. Wunderbares verwandelt sich in Unheimliches. Statt die Sache spielerisch zu nehmen, als bizarres Traumgespinst, aus dem man sich nur im Gelächter befreien kann, lässt unser Held das Spiel ernst, ja tödlich werden. Am Schluss wird er verurteilt: nicht zum Tode, sondern zum ewigen Leben und zum Lachen. Das schreckliche Gelächter der maskierten Richter kann man, so man will, als Nachklang von Friedrich Nietzsches befreiendem Lachen der Fröhlichen Wissenschaft interpretieren. Entlassen in eine vage Zukunft taumelt Harry ins Freie.