„Der Stil der UDSSR ist die gerade Linie!“
(Ippolit Sokolow)

Michael Cornelius Zepter

Malewitschs Kleider

In: Waltraud Rusch (Hg.): Der Faden der Ariadne. Festschrift 25 Jahre, Fachverband für Textilunterricht. Schneider Verlag Hochgehren 2000, S. 78 - 95


„Ich glaube, dass sich auf dem Weg der objektiven Naturdarstellung eine tiefe Mystik gestalten lässt. Die Mystik der malerischen Mittel. Die symbolische Kraft und Bedeutung des Punktes, der Linie, des Dreiecks, Quadrats, Kreises. Sodann, was ich über alles liebe: das Herbe, Strenge; nicht das Blumenhafte, Duftige, Seidige, Wagnerische, sondern Bach, Händel..“
(Oskar Schlemmer, Tagebuch April 1913) 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 1
Luca Cambiaso:
Figurengruppe, lavierte Feder-Zeichnung, Uffizien, Florenz

 

Körper und Geometrie

Das Geometrische ist nicht selbstverständlich mit dem Körper verbunden; auch nicht mit der Kleidung. Im Gegenteil, für die Alltagswahrnehmung kann es kaum einen größeren Gegensatz geben, als den zwischen linearer (euklidischer) Geometrie, welche man mit Mathematik und Verstand zu verbinden gewohnt ist und den organischen Formen des eigenen Körpers, die man gewöhnlich als dem Reich der Natur zugehörig ansieht. Diese strikte Trennung zwischen Körper und Geist, vorgedacht vor allem bei Descartes, ist aber nicht selbstverständlich und es gab und gibt im Verlauf der Kulturgeschichte vielfache Verknüpfungen dieser gegensätzlichen Naturen.
Rudolf zur Lippe hat das Wort von der „Naturbeherrschung am Menschen“ geprägt und erläutert diese Beziehung in seinem Buch über die „Geometrisierung des Menschen“ am Beispiel des höfischen Balletts im Zeitalter des barocken Absolutismus
(Anm. 1). Er verbindet die Künste dieser Epoche mit ihrer Tendenz zur geometrischen Überformung aller ästhetischen Produktionen durch das Wahrnehmungs- und Darstellungssystem der Zentralperspektive, deren doppelt gespiegelte Pyramide (Fluchtpunkt und betrachtendes Auge) ganz im Sinne der zentralen Gewalt die Welt zugleich ordnet und beherrscht. Die Verbindung von der Utopie eines vollkommen nach einem Prinzip geordneten Staates mit realer, auf eine Spitze („Sonnenkönig“) hin zielende Gewalt, hatte Folgen. Die Faszination für derartige, alles umfassende und regulierende Utopien verschwand nicht durch die Enthauptung des Königs, schon in der Revolution selber, vor allem bei Robespierre, zeugte sie sich fort, ja verband sich in der „Dialektik der Aufklärung“ aufs innigste mit den Hoffnungen der meisten Reformer und Revolutionäre. Den daraus sich ergebenden Verstrickungen und Aporien möchte ich im folgenden am Beispiel der Kleidungsentwürfe der russischen Avantgardekünstler nachspüren. Kasimir Malewitschs Kleider stehen dabei im Zentrum.
Den menschlichen Körper, die Glieder, den Leib erleben wir gerundet, biegsam, weich, von elastischer Festigkeit. Stoff darüber schmiegt sich an, bildet Falten, Ausbuchtungen oder Wölbungen, bauscht sich, wird gerafft, fällt, fließt. Eckige, kantige Körperteile sind Abstraktionen oder visionäre Projektionen – wir denken an künstliche Menschen und Roboter, an Proportionsstudien oder Gliederpuppenzeichnungen in der Art von Luca Cambiaso, Ehard Schön oder G. B. Bracelli

(Abb. 1, Anm. 2)
.
In der Technikgeschichte des Textilen lassen sich vor allem zwei Bereiche der Produktion isolieren, bei denen geometrische Form sich schon mit der Funktion verbindet: Weben und Schnitt. Die Struktur gewebter Flächen aus Kette und Schuss bedingt zwangsläufig Gestaltungen, die sich am Band, am Rechteck oder Quadrat orientieren.
(Anm. 3)
Durchforscht man die Geschichte der Kleidung, so fällt auf, dass es eine reine Geometrisierung von Schnitt und Muster zugleich eigentlich nie gegeben hat. Selbst dort, wo z.B. die Heraldik – vor allem in ihren frühen, auf einfache Gliederungen ausgerichteten Formen – die Gestaltung höfischer und ritterlicher Kleidung prägte, finden wir ein dialektisches Verhältnis von Körperform und Kleidgestalt; schön zu beobachten am Beispiel des männlichen Miparti oder der burgundischen längs gestreiften Männerhose. Selbst das karierte Narrenkleid ist dem Körper angeschmiegt.
Wade, Schenkel und Hinterteil modellieren die Streifen des eng anliegenden Beinkleids, die gerade Linie wird zur geschwungenen Welle. Beim Turnier flattern Helmzier, Waffenrock und Schabracke, darüber die Wimpel und Banner – sie blähen sich auf, winden sich, fallen zusammen – alle geraden Linien, geometrischen Formen gewölbt, in ständig sich ändernden Wellenformen, Brechungen und Sprünge, merkwürdige Collagen, die sich im ständigen Fluss ineinander, übereinander verschieben. Das Auge schweift, ist verwirrt – wo noch ein ruhender Pol? Denn auch der bemalte Schild, geteilt in klare geometrische Felder, bewegt sich auf und ab im Rhythmus des galoppierenden Streitrosses.

 

Liebevoll malt Cranach die Handschuhe der Judith, ihren Gürtel, ihr Mieder. Der Gürtel, schwarz weiß gestreift wie der Dom von Siena, zerschneidet die Säule des schlanken Frauenkörpers – doch selbst hier schmiegt sich die Geometrie der Streifen an, wird gedehnt und gebogen. Gerade Schnitte in den Stoff des Mieders klaffen auf und wölben sich sichelförmig über dem Busen; an den Handschuhen formen sie sich zu kunstvollen Gelenkknoten, die dadurch etwas Unheimliches bekommen, etwas wie Adlerklauen.

Abb. 2
Lukas Cranach d. Ä.: Judith (Detail) Jagdschloss Grunewald, Berlin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

So ist es nicht verwunderlich, wenn Christian Garve 1792 die Anpassung der Kleidung an Gestalt, Bewegung und Gefühle des Körpers als selbstverständlich ansieht.(Anm. 4) Seine Forderung nach ‚vernünftiger‘ Kleidung und Mode richtet sich demnach auch nicht auf Geometrisierung, auf mathematische Strukturen (mit Ausnahme vielleicht der Proportionen (Anm. 5), die er aber nicht als absolute Konstanten sieht), sondern zielt auf die gesellschaftlichen, ethischen Funktionen und den Gebrauch.(Anm. 6)

Es wäre sicher reizvoll, den hier angesprochenen Aspekt der Ideengeschichte in seiner Entwicklung seit der Aufklärung genauer zu verfolgen, doch würde das den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Die Theorie der Kunst, so wie sie von Künstlern entwickelt und zum Fundament ihrer Arbeit gemacht wurde, verläuft nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen. Neben visionären und utopischen Gedanken stehen Regressionen, Rückgriffe auf scheinbar längt „überwundene“ Positionen mischen sich mit pragmatischen Strategien. Hegels Versuch, diese Problematik vom Kopf her im Sinne eines in sich kohärenten und vollkommen stimmigen Systems zu lösen, war ebenso verführerisch wie aussichtslos. Dies ist bekannt. Lässt man sich aber auf die intuitiven Gedankensprünge der modernen Künstler ein, so zeigen sich überraschende Konsequenzen. Descartes Idee vom Körper als Maschine erhält da (nicht nur im Zusammenhang des russischen Konstruktivismus) neue Aktualität. Die Ideen Hogarths über die Schönheit organischer Formen und Bewegungen scheinen in Tatlins Flugmaschine, dem Letatlin oder in Mejerchol‘ds Thesen zum biomechanischen Theater eingeflossen zu sein.
Der Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal hat künstlerisches und mathematisches Denken noch als unvereinbar angesehen.(Anm. 7) Mit den Ideen der russischen Künstler, ihren Manifesten und theoretischen Schriften, in welchen sie versuchten, diese Kluft zu überbrücken, zu einer dynamischen Synthese zu gelangen, geraten wir mitten hinein in den Gärungsprozess des utopischen Denkens. (Anm.8)

Der Aufbruch in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Es war also nur eine Frage der Zeit, dass die Forderung nach der Herrschaft der Vernunft über den Körper sich auch auf Gestaltungsfragen in Kunst und Design auswirkte. Am radikalsten erfolgte dies über 200 Jahre später in den körperbezogenen Arbeiten (Kleidung, Theater, Architektur) der russischen Konstruktivisten.
Der Zeitsprung ist natürlich zu groß, als dass man einen direkten Einfluss des Zeitalters der Vernunft auf die Gedanken der russischen Avantgarde annehmen kann. Dazwischen liegen die völlig anders gearteten Gefühls- und Erlebniswelten von Romantik, Sturm und Drang, Idealismus, Historismus und Naturalismus, nicht zuletzt auch des Jugendstils und Symbolismus, gegen dessen ästhetische Vorstellung die Konstruktivisten in Russland Position bezogen.(Anm. 9) Wichtig in unserem Zusammenhang scheinen mir die Funktionalismusdebatte bzw. die Auseinandersetzung um eine funktionsgerechte Form in Architektur und Design in der Folge von Arts & Crafts und Deutschem Werkbund (Hermann Muthesius), die Erkenntnisse der sich gerade etablierenden Gestaltpsychologie und nicht zuletzt die Entwicklung der Kunst von Cézanne bis zum Futurismus, welche der russischen Kunst den entscheidenden Impuls gegeben hat.(Anm. 10)
Zur Parallele zwischen der rationalistischen Philosophie des 16. Jahrhunderts und der geistigen Entwicklung in Europa der zwanziger Jahre sagt Stephen Toulmin:
„Der nach 1920 entwickelte Mythos der Moderne und der Traum von einem Neuanfang hat das rationalistische Forschungsprogramm des 17. Jahrhunderts nicht vollkommen wiederholt und das der Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts zugrunde liegende Modell der formalen Exaktheit nicht unverändert übernommen. Vielmehr machte man sich die Idee einer strengen Rationalität nach dem Vorbild der formalen Logik und einer universellen Methode zur Entwicklung neuer Ideen auf jedem beliebigen Gebiet der Naturwissenschaft in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts noch enthusiastischer in noch extremerer Form zu eigen als Mitte des 17. Jahrhunderts. Nach Descartes wurden die Begriffe der Exaktheit und Strenge selbst noch verfeinert und verschärft. Im späten 19. Jahrhundert zeigte David Hilbert, wie ein wirklich reines mathematisches System aussehen mußte; daher war das von Frege und Russell aufgebaute System der formalen Logik und Arithmetik am Ende noch reiner als die Euklidische Geometrie, die bei Rene Descartes das Modell war.“(Anm. 11)
Auch wenn wir heute im Rückblick mit dem Namen Kasimir Malewitsch vor allem sein abstraktes Werk aus der Periode des Suprematismus und darin das schwarze Quadrat als eine der Ikonen des 20. Jahrhunderts im Auge haben, so bilden seine malerischen Auseinandersetzungen mit der menschlichen Figur, seine Kostümentwürfe und seine Beiträge zur Entwicklung der Kleidung doch einen wesentlichen Teil dieses Werkes.
Am Anfang stehen die Bauern und Bäuerinnen – schwerblütig und massig in der Statur wie Malewitsch selbst, der ja auch in bäuerlicher Umgebung aufwuchs (Abb.3). Heiner Stachelhaus hat diese frühe Phase seines Lebens unter Verwendung von Malewitschs eigenen Aufzeichnungen anschaulich geschildert.(Anm. 12) Eine der wesentlichen frühen Erinnerungen ist die an die arbeitenden Bauern auf den Feldern und ihre bunten Kleider.(Anm. 13)

Abb. 3

Kasimir Malewisch:
"Holzfäller" (Ölbild 1912)
Stedelijk Museum Amsterdam

Malewitsch reduzierte deren Farbigkeit auf die Grundfarben Rot, Gelb und Blau, ergänzt um Grün, Schwarz und Weiß. Der vom Kubismus inspirierte Farbverlauf führt – ähnlich wie bei Léger, zu metallisch wirkenden Figurationen, zusammengesetzt aus Kuben, Tonnen und Röhren. Man assoziiert bei diesen arbeitenden Menschen, dass aus dem russischen Wort Arbeiter (robotnik) der Begriff „Roboter“ entstanden ist. Die Verwandtschaft zu den oben genannten manieristischen Zeichnern ist offensichtlich – ohne dass meines Wissens bisher eine direkte Verbindung gezogen werden konnte. Doch sind Quellentexte der Zeit, vor allem später in den zwanziger Jahren, gefüllt mit derartigen Gedanken und Verweisen. Gerade erst hat Nicoletta Misler in einem ebenso spannenden wie intelligenten Aufsatz zum Körper bei den „Amazonen“ der russischen Avantgarde auf die Interpretation des Bauernkittels als ‚neues Parthenon‘ hingewiesen.(Anm. 14) Auch im übrigen Europa liebte die Avantgarde solche Gedankenverbindungen, gab sie doch die Chance, die eigenen revolutionären Gedanken möglichst krass der geistigen Tradition gegenüberzustellen, um sie damit aber auch zu legitimieren. Die Tempel der neuen Zeit konnten nur auf den Trümmern der alten aufgerichtet werden – jedoch unter Verwendung der alten Bausteine.
Die Bauern in farbigen Rüstungen des Industriezeitalters? Und doch auch blockhaft, massiv und monumental – wie uralte Idole. Keinesfalls nur eckige Formen oder gar nur Senkrechte und Waagrechte. Die Abstraktionen sind komplizierter als bei Mondrian, bleiben immer auch körperlich. Diese Parallele zur eigenen Körperlichkeit fiel Nicoletta Misler bei den Frauen auf. Sie vermutet ein matriarchalisches, möglicherweise sogar konservatives Frauenbild, welches in die bekannte Ikonografie der Stalinzeit mündet und in diametralem Gegensatz steht zum Bild der schlanken, grazilen (nackten) Tänzerin, wie sie Sidorow auf die Bühne brachte. Beide Ideale – Mutterstatue (Gontscharowas Salzsäulen) und nackte Befreiung der Körperlichkeit – stießen auf Misstrauen und Ablehnung, man lese die entsprechenden Ausführungen bei Misler nach. Hier soll darauf nur verwiesen werden.

 



Abb. 4-8 Kasimir Malewitsch: Kostümentwürfe zur Oper "Sieg über die Sonne".
St. Petersburg 1913
Abb.9. Bracelli: "Bizzarrie" (Schauspieler und Soldaten). Kupferstiche, Florenz 1624

 

Der Sieg über die Sonne

Die Kostümentwürfe und Bühnenbilder zur Oper Sieg über die Sonne sind ein wichtiger Meilenstein in Malewitschs künstlerischer Entwicklung gewesen, Jeannot Simmen hat deren Bedeutung für die Entwicklung des Suprematismus herausgearbeitet. (Anm. 15) Das Werk – eine Gemeinschaftsproduktion von Malewitsch, dem Komponisten Matjuschin, und dem Dichter Krutschonych unter Mitwirkung von Chlebnikov – wurde 1913 in St. Petersburg aufgeführt. Das Libretto mag uns sonnenhungrigen Mitteleuropäern heute vollkommen absurd erscheinen: Die Sonne wird besiegt, ihr Untergang für Jahrhunderte besiegelt, indem man sie einsperrt, als Symbol für „alte Romantik und hohle Geschwätzigkeit“ (Anm. 16) Die künstlerischen Mittel dieses revolutionären ‚Gesamtkunstwerks‘ knüpfen an den ästhetischen Forderungen der Futuristen an. („Zukünftler“, Budetljane, nannte sich die Gruppe, denen die vier Autoren angehörten). Doch sowohl die Sprache „Zaum“ als auch die ultrachromatische Musik Matjuschins sowie Malewitschs Bühnenentwürfe gingen eigene Wege.
Malewitschs Kostüm- und Bühnenentwürfe sind erhalten (Abb. 4-8), nach ihnen hat das California Institute of the Arts 1980-83 eine Rekonstruktion versucht. (Anm. 17) Glaubt man zeitgenössischen Berichten, so müssen die wenigen Aufführungen dieser Oper im Lunapark-Theater von St. Petersburg einen gewaltigen Eindruck hinterlassen haben. Malewitschs Bühnenausstattung zerstörte den klassischen Bühnenraum völlig, zerstückelte ihn durch seine kubufuturistische Formensprache, noch verstärkt durch neuartige Beleuchtungstechniken. B. Lifschitz erinnert sich 1933:
„Die Neuigkeit und Originalität des Verfahrens von Malewitsch lag vor allem in der Verwendung des Lichtes als Ursprung, das Form überhaupt erst bildet und das das Lebendige als auch das Sächliche im Raum erst legitimiert... Zum ersten Mal entstand innerhalb eines Bühnenkastens eine malerische Stereometrie, hielt ein strenges Rauminhaltssystem Einzug, das die der Bewegung menschlicher Figuren inhärenten Elemente des Zufalls auf ein Minimum reduzierte. Die Figuren selbst wurden von den blitzenden Scheinwerfern zerstückelt und verloren abwechselnd Hände, Beine oder Köpfe, denn für Malewitsch bedeuteten sie lediglich geometrische Körper, die es galt, nicht allein in ihre Einzelheiten zu zerlegen, sondern auch im malerischen Raum völlig aufzulösen. Die einzige Realität war die abstrakte Form, die sich restlos die ganze teuflische Eitelkeit der Welt einverleibte.“ (Anm. 18)

Malewitschs Kostümentwürfe zu Sieg über die Sonne sind trotz ihrer geometrischen Formensprache nicht eigentlich konstruktiv, sie sind „komponiert“, bei einigen Figurinen lassen sich auch ornamentale Tendenzen feststellen. In manchen Details nehmen sie Oskar Schlemmers Ideen zum Triadischen Ballett vorweg, ohne dessen ausgefeilte und präzise Entwürfe zu erreichen. Strukturell haben sie weniger Bezug zu den Proportionsstudien von Dürer oder Cambiaso, sondern zu den verspielten kombinatorischen Figurinen des toskanischen Kupferstechers Bracelli (1624), welche Hocke als bizarre Maschinenwesen charakterisierte. Vor allem Bracellis Tänzerpaar zeigt in einer Mischung aus textilen und metallischen Elementen eine mehr additiv-ornamentale als konstruktiv-funktionale Formensprache (Abb.9). Das „Geometrische“ bzw. „Funktionale“ dieser Figurinen zielt auf das „Symbolische“ und nicht auf realisierbare Konstruktion. Hocke bezeichnet dies als inventio, als Erfindung im Sinne des disegno fantastico. Für ihn treffen in diesen Einfällen konstruktiver Verstand und intuitive Phantasie zusammen – Beispiele für die manieristische Theorie der discordia-concors.(Anm. 19) Was die Erfindungen Malewitschs mit denen des Toskaners über dreihundert Jahre Distanz verbindet, ist eben dieser Zwiespalt, diese Doppelbödigkeit, dieser scheinbare Widerspruch, der für das Werk des russischen Künstlers so bezeichnend ist; davon später mehr.
Zurück zu Malewitschs Kostümentwürfen. Im Gegensatz zu den Bizarrien des manieristischen Kupferstechers wirken sie insgesamt grob, „unelegant“, erdenschwer. Die Figurine des Athleten (der futuristische Herkules) zeigt einen klobigen, aus Kegelstümpfen und prismatisch-kubischen Elementen zusammengesetzten „stählernen Menschen; metallische Blöcke ersetzen die schwellenden organischen Muskeln, doch wirkt die Gestalt eher wie ein erdgeformter Golem oder wie aus Eisen gegossen, nicht geschmiedet. Die Gelenke sind dysfunktional, erscheinen wie Bruchstellen.
Obwohl Malewitsch sich zu dieser Zeit noch zu den „Zukünftlern“ zählt, ist er doch schon auf der Suche nach einem Weg, der jenseits utilitaristisch-zweckmäßiger Zukunftsgläubigkeit liegt. In den nächsten Jahren wird er sich der reinen Malerei zuwenden und den „Suprematismus“ entwickeln, dessen Ikone, das schwarze Quadrat, schon innerhalb des Formenrepertoires seiner Bühnenausstattung aufgetaucht war. Auf diese, für die Entwicklung nicht nur der russischen Kunst so bedeutende Phase, die noch heute als Meilenstein der Avantgarde gilt, kann hier nur verwiesen werden. Sie ist aber auch für die „utilitaristischen“ Arbeiten Malewitschs von großer Bedeutung gewesen, weil sie ihm nicht nur ein formales Repertoire, sondern darüber hinaus eine grundlegende „Philosophie“ und einen unbestechlichen Maßstab für Qualität und Radikalität der weiteren Arbeit bot. Dieser Maßstab wurde – bei allen Gegensätzen – auch von den meisten Künstlern der jungen russischen Avantgarde akzeptiert. Fast alle wurden vom „Suprematismus“ beeinflusst, viele folgten Malewitsch ein Stück auf seinem künstlerischen Weg. Dies gilt vor allem auch für Tatlin, von Beginn an der geniale Kontrahent, der schließlich durch die Hinwendung zum Konstruktivismus zusammen mit anderen Künstlern wie Alexander Rodschenko, Warwara Stepanowa, Alexandra Exter den Bruch vollzog. Eine Zeitlang engagierte Malewitsch sich ebenfalls beim Aufbau und der Entwicklung von Ausbildungsstätten mit dem Ziel eines anwendungs- und funktionsgebundenen Designs für die neue kommunistische Gesellschaft. Dies begann 1918 mit seiner Lehrtätigkeit in Moskau an den Ersten Freien Staatlichen Kunstwerkstätten (SVOMAS), die 1920 in WCHUTEMAS (Höhere Staatliche künstlerisch-technische Werkstätten) umbenannt wurden. Malewitsch leitete dort eine Malklasse und ein Atelier für Textilgestaltung zusammen mit Nadeschka Udalzowa. (Anm. 20)1919 ging er nach Witebsk, wo schon Chagall als Direktor lehrte und drängte nach kurzer Zeit diesen so völlig anders gearteten Künstler der „sozialistischen Hähnchen“ und fliegenden Geiger aus dem Amt. 1922 wurde er dann nach Leningrad an das dort neu gegründete GINCHUK-Institut berufen, außerdem hielt Malewitsch Vorlesungen in Moskau am INCHUK-Institut, wo auch Rodschenko, Kandinsky, Stepanowa und Popova unterrichteten. Begleitet wurde diese Aktivitäten von einer großen Zahl von Manifesten, Unterrichtsplänen, philosophischen und ästhetischen Schriften zur Kunst. Das war damals nicht unüblich, vielleicht ist nirgendwo in der Kunst des 20. Jahrhunderts so viel debattiert und argumentiert worden wie in Russland nach der Oktoberrevolution.
Es gibt ein Gruppenfoto aus der Zeit seiner Lehrtätigkeit in Witebsk, das ein Schlaglicht auf Malewitschs Arbeit und die Atmosphäre seiner Klasse wirft. Es zeigt ihn im Kreise seiner Studenten und Mitgliedern der Künstlergruppe UNOVIS („Gründung neuer Formen der Kunst“) in Witebsk vor ihrer Abreise zu einer Ausstellung in Moskau. Malewitschs gedrungene Gestalt – halb Bauer, halb Feldherr – beherrscht als zentrale Figur die Szene. In der Linken hält er wie eine Trophäe einen Porzellanteller mit suprematistischem Design (Er leitete für einige Zeit die Keramikwerkstatt), seine ausgestreckte Rechte weist auf den von Suetin dekorierten Güterwagen. Man erkennt das Schwarze Quadrat links oben als Plakat und bei zwei Gruppenmitgliedern als aufgenähtes Emblem am Revers.
„Im weiten Raum kosmischer Feiern errichte ich die weiße Welt der suprematistischen Gegenstandslosigkeit als Manifestation des befreiten Nichts“, schreibt Malewitsch als Schlusswort unter seine in Witebsk verfasste Schrift: (Anm. 21) „Der Suprematismus als reine Erkenntnis“ (Februar 1922). Nach Diederich wurde der Gegenstand bei Malewitsch nicht vorrangig als Gebrauchsding definiert, sondern als "beseeltes Objekt".Diederich: "Darauf schließlich kam es ihm auch an: seine Idee des Suprematismus in den Alltag zu überführen und so die gesamte Lebenswelt in seinem Sinne zu reformieren." (Anm. 22) Malewitsch hat sich später in einem philosophischen Text, der als Bauhausschrift veröffentlicht wurde, sehr tiefgehend zu diesem Verhältnis zwischen der Welt der Kunst und der Welt der realen Dinge geäußert:
„Die Empfindungen des Sitzens, Stehens, Laufens sind vor allem plastische Empfindungen, die die Entstehung der entsprechenden „Gebrauchsgegenstände“ veranlassen und auch ihre Gestalt wesentlich bestimmen. Der Stuhl, das Bett, der Tisch sind nicht Zweckmäßigkeiten, sondern die Gestalt plastischer Empfindungen, so dass der allgemein üblichen Ansicht, alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs seien das Resultat praktischer Erwägungen, falsche Voraussetzungen zugrunde liegen.“
„ Wahrscheinlich können wir das Wesen einer absoluten Zweckmäßigkeit nur empfinden; da nun aber eine Empfindung immer gegenstandslos ist, so ist alles Suchen nach einer Erkenntnis der Zweckmäßigkeit des Gegenständlichen – Utopie.“ (Anm. 23)
Radikaler kann man Funktionalität bzw. die Forderung nach rationaler Konstruktion der „utilitaristischen“ Welt der Dinge kaum zurückweisen. Zumindest die Kunst hat damit nichts zu schaffen, sie steht jenseits bzw. weit über dem Utilitaristischen und diese „suprematistische“ Weltsicht weist zugleich auch jeden Versuch einer Erkenntnis der realen Welt als utopisch zurück. Auf dem Weg hin zu dieser Konsequenz hat Malewitsch sicher auch Kompromisse gemacht; oder genauer, die letzten Konsequenzen seiner Ideen waren ihm nicht von Anfang an völlig klar. So hat er sich u.a. zusammen mit Exter, Romanowa, Popowa an der 2. Ausstellung moderner dekorativer Kunst (1917 im Moskauer Michailowa-Salon) beteiligt und dort Gebrauchsgüter nach suprematistischen Entwürfen gezeigt. Während die entsprechenden Kunstwerke abgelehnt wurden, war die Akzeptanz einer derartig neuen Formensprache im Bereich des Design durchaus vorhanden. (Anm. 24)
Diederich verweist in diesem Zusammenhang auch auf eine Mitteilung von Larissa A. Shadowa. Danach soll Malewitschs Mutter nach suprematistischen Vorlagen ihres Sohnes für Verwandte und Bekannte suprematistische Schals und Pullover gestrickt haben. (Ebd. S. 60)

Konstruktive Produktionskunst

Viele der jungen Künstler radikalisierten im Rahmen der Entwicklung und Festigung der kommunistischen Gesellschaft in Russland ihre Positionen. Sie wandten sich gegen „Staffeleibild“ und „Komposition“ und forderten dagegen eine strikt konstruktive Kunst. 1923 veröffentlicht Warwara Stepanowa einen Aufsatz mit dem Titel Der Anzug des heutigen Tages – das ist die Produktionskleidung in der Zeitschrift LEF (= linke Front der Künste).(Anm. 25) Darin fordert sie eine Abkehr vom dekorativen und verschönernden Aspekt der Kleidung (Stepanowa spricht bezeichnenderweise von dessen Liquidierung) und formuliert als neue Losung: „Bequemlichkeit und Zweckmäßigkeit des Anzugs für die betreffende Produktionsfunktion“. Damit verbunden fordert sie den Übergang von den „kleinen Produktionsformen zur industriellen Massenanfertigung. Erst durch diese, so Stepanowa, „verliert der Anzug seine ‚ideologische‘ Bedeutung und wird zu einem Teil der materiellen Kultur“. Der moderne Anzug soll materialgerecht sein, nicht beengen, sondern Bewegungsfreiheit vermitteln; An die Stelle nichtfunktioneller Ornamentik treten als Gestaltungselemente allein der Zuschnitt und die Farbe. Die Form „ist nicht mehr willkürlich, sondern erwächst aus den Forderungen der Aufgabe und ihrer materiellen Realisierung.“ Neben der Produktionskleidung, bei der Zuschnitt und Material, aber auch „die vielen Taschen“, deren Zahl und Gestaltung sich nach den jeweilig aufzunehmenden Werkzeugen etc. bestimmen, als wichtigste Funktionen zu nennen sind, stellt Stepanowa in ihrem Beitrag auch Sportkleidung vor. Hier ist neben der Hauptfunktion der Bewegungsfreiheit (beispielhaft für Fußball- und Basketballtrikots), der Forderung nach „einem Minimum an Kleidung und Unkompliziertheit beim Anziehen und Tragen“ auch die Emblematik und die möglichst „grelle“ Farbigkeit zu gestalten. So starr und geometrisch die Kleidung vom Entwurf her erscheint, so lustig und lebendig wirkt sie dann an den Körpern im Original (Abb. 10-11). Ein wenig erinnert dies an Harlekinade und man erinnert sich, welch wichtige Rolle die Commedia del Arte für die Entwicklung einer neuen Theatertheorie jenseits von Stanislawski in Russland gespielt hat. (Anm. 26)

 



Abb. 10-11 Wawara Stepanowa:
Entwürfe für Sportlerkleidung 1923

Abb. 12: Wladimir Tatlin: "Das Lachen". Bühnenkostüm 1923

Abb. 13: Kasimir Malewitsch: "Suprematistisches Kleid" 1923
(Detail)

Betrachtet man im Vergleich die Kostüm- und Kleidungsentwürfe der Konstruktivistinnen Stepanowa und Popowa mit denen von Tatlin, so fällt ein formaler Unterschied auf. Wo die beiden Frauen die Formen der Kleidung radikal linear, meist geradlinig geometrisieren, wirken Tatlins Zeichnungen elegant geschwungen, geprägt vom Zirkelschlag und Bogen-linien (Abb. 12, Anm. 27)
Auch Malewitsch hat sich im Bereich des Kleiderentwurfs versucht. Aus dem Jahre 1923 datiert eine Entwurfszeichnung für ein "suprematistisches Kleid“ (Abb. 13). Auch wenn bestimmte Funktionen und konstruktiven Teile der Kleidung durch Farbe akzentuiert werden, so handelt es sich insgesamt doch um eine reine "Komposition", welche sich nicht um die konstruktiven Struktur und die z. B. bei Stepanowa geforderten Funktionen von Kleidung kümmert. Formen und Farben haben mehr emblematischen, zum Teil sogar symbolischen Charakter, etwa wenn Malewitsch die russischen Farben Blau-Weiß-Rot, ergänzt um die Farbe Schwarz verwendet, oder wenn das Schwarze Quadrat gleich dreimal zitiert wird – klein als aufgenähtes Emblem am linken und als Manschette am rechten Ärmel und noch einmal größer im Bereich des rechten Knies. Er verfährt also bei der Kleidung ähnlich wie bei seinen Entwürfen im Bereich des Porzellandesigns. Dem entspricht auch der handschriftliche Text am Rand der Skizze: „Harmonisierung der architektonischen Formen in beliebigem Stil der Industriearchitektur: suprematistisch-dynamisch oder statisch oder kubistisch, erfordert Veränderungen der existierenden Möbel, des Geschirrs, der Kleider, Bemalung und Malerei. Voraussehend, dass die Bewegung der Architektur in bedeutendem Maße eine suprematistische Harmonie der funktionellen Formen haben wird, habe ich die Skizze des Kleides gemacht, wie Wandbemalungen nach Farbkontrasten.“ (Anm. 28) Auch in dieser Textstelle wird Malewitschs Totalanspruch deutlich; darüber hinaus, wie sehr er den Funktionsaspekt an den ästhetischen Begriff der Harmonie bindet und damit nicht konstruktiv sondern kompositorisch argumentiert.

Renaissancemenschen

Malewitschs bemerkenswertes Spätwerk wurde erst in letzter Zeit ausführlicher gewürdigt und neu gedeutet. Nachdem man 1995/96 schon Teile daraus in Köln hatte sehen können, ist ihm jetzt (Frühjahr 2000) eine eigene Ausstellung in der Bielefelder Kunsthalle gewidmet.
1926 war der Künstler als Direktor des GINCHUK entlassen worden, das Institut wurde aufgelöst. Malewitsch fand eine neue Wirkstätte an der Forschungsabteilung des Staatlichen Instituts für Kunstgeschichte in Leningrad, wo er zwei Jahre lang zusammen mit seinen Schülern Suetin und Tschaschnik an Plänen für sozialistischen Städtebau arbeitete. Auch dieser Versuch, den Suprematismus im Bereich der Architektur umzusetzen und anzuwenden, scheiterte. 1929 wurde er entlassen. Vergeblich versuchte er, Kontakte mit dem Bauhaus in Dessau aufzunehmen und von Gropius dort eine Professur zu erhalten. Denn, wie Beat Wyss bemerkt, drohte Malewitsch dort „Geister zu beschwören, die das Bauhaus erfolgreich ausgeräuchert hatte.“ (Anm. 29) Wyss resümiert: „Gropius ist die Toleranz zu bescheinigen, Malewitsch trotz unterschiedlicher Standpunkte eine Plattform gewährt zu haben; doch als Lehrer am Bauhaus hätte er den unberechenbaren Charismatiker nicht haben wollen. So war Malewitsch verurteilt, als Prophet der Moderne die Utopie am Ort ihres Scheiterns zu erleiden. Er ist ein Ikarus der Revolution, der, vom Sturm des Zeitgeistes in die Höhe gerissen, sich diesem anvertraute, da der Flug in die Richtung zu weisen schien, in die der eigene Enthusiasmus zielte.“

Abb. 14
Kasimir Malewitsch: "komplizierte Vorahnung". Ölbild 1932

Abb. 15
Kasimir Malewitsch: Selbstbildnis
Ölbild 1933


Zuletzt, kurz vor seinem Tod, wurde er sogar verhaftet und zwei Monate lang verhört, doch blieb ihm Schlimmeres erspart. In diesen letzten Jahren hat Malewitsch ein umfangreiches malerisches Spätwerk geschaffen, dessen Eigenständigkeit und komplizierte Aussage erst in jüngster Zeit gewürdigt worden ist. Man lese dies im Katalog der Bielefelder Kunsthalle nach. Eines der eindrucksvollsten Figurendarstellungen zeigt die monumentale Gestalt eines russischen Bauern im gelben Kittel und trägt den Titel „komplizierte Vorahnung“ (Abb. 14). Wie ein Turm steht die Figur vor einem wolkenlos blauem Himmel, im unteren Drittel wirken die schwarz-gelb-roten waagrechten Bänder der Felder wie eine Mauer, auf deren Krone sich links ein radikal stilisiertes rotes Haus erhebt. Vom Körper sieht man nur den eiförmigen Kopf, gerahmt von einer schwarzen Bartkrause, die mehr wie ein Schlagschatten wirkt. Der Hals, auf dem er ruht ist glatt und gerade wie eine Säule, das Gesicht ist leer, jede Spur einer Individualität getilgt. Der organoiden Architektur des Körpers entspricht die Kleidung wie eine zweite Schale, ohne Falten und Muster. Die einzigen Akzente sind die zwei Knöpfe des Stehkragens und die um die Taille statt eines Gürtels geknüpfte Schnur. Dies alles, Mensch, Architektur, Landschaft ist Symbol, eine fast an den frühen de Chirico erinnernde jenseitige Traumwelt, vollkommen durchgeformt und verwandelt in die Vision einer zukünftigen Welt, die allein aus den Harmonien des Suprematismus geformt ist. Nur kleine Reste (Knöpfe, Bart, Schnur) zeugen noch von der einstigen „utilitären“ Welt, der vom sozialistischen Realismus so heftig eingeforderten Wirklichkeit. Erschütternd zu lesen, was Malewitsch als Text auf die Rückseite des Bildes geschrieben hat: „ Komposition zusammengefügt aus den Elementen und der Erfahrung von Leere, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit des Lebens:“ (Anm. 30) So vereinen sich in diesem Bild die Momentaufnahme über die Situation des russischen Bauern in den Hungerjahren der NEP (Neuen ökonomischen Politik) und die Vision einer neuen Zeit zur wahren Ikone, wie Malewitsch sie neu interpretierte.
Am Ende von Malewitschs malerischem Werk stehen die „Renaissanceportraits“. Ob sie den Versuch einer Anpassung an den verordneten „sozialistischen Realismus“ repräsentieren oder eine letzte und konsequente Weiterführung des Suprematismus, möchte ich hier nicht entscheiden. (Immerhin signierte Malewitsch diese Bilder durchgängig mit dem Emblem des Schwarzen Quadrats). Er, der davon überzeugt gewesen war, sein „suprematistischer“ Standort stände weit über der zum Scheitern verurteilten anwendungsbezogenen (utilitären) Kunst (in der Art des Konstruktivismus, der Produktionskunst oder zuletzt des Proletkult), fand sich zum Schluss selbst in Aporien und Widersprüche verstrickt. (Anm. 31) Boris Groys sieht den Kern dieses Scheiterns in Malewitschs eigener Orientierung am Ziele einer ‚vollkommenen Kunst‘. „Er selbst programmierte den Zusammenbruch der Avantgarde vor, als er den Künstler vom Beobachter in einen Machthaber und Demiurgen verwandelte.“ Und Groys fährt fort:
„Natürlich kann man sagen, dass für Malewitsch selbst wie auch für Chlebnikow Anschauung und Beherrschung noch eine Einheit darstellten – sie glaubten noch an die Magie des Bildes und des Wortes, die, wie zuvor die antike platonische »Idee« oder die »Wahrheit« der Rationalisten des 17. Jahrhunderts, durch ihr bloßes Auftreten und ohne jeden Zwang dazu berufen sind, die Liebe der Völker zu gewinnen und absolute Macht über die verzauberte Welt zu verleihen. In diesem Sinne ist Malewitschs Position wirklich »suprem«, denn sie markiert den Punkt des größtmöglichen Glaubens des Künstlers an sein Werk. Doch dieser Punkt erwies sich als schnell überschritten, und die »gewaltsame Umgestaltung des alten Lebens« betraf bald auch jene, die von den »Relikten der Vergangenheit« daran gehindert wurden, die Wahrheit der neuen mystischen Erleuchtungen zu erfassen.“
Die Serie von Portraits seiner Freunde und Familienangehörigen, zu denen auch das Idealportrait einer russischen Bäuerin und sein eigenes Selbstportrait (Abb.14) zählen, scheinen von der Ikonografie des (Herrscher)-Portraits zur Zeit der Frührenaissance inspiriert zu sein. Dies gilt vor allem für sein Selbstportrait, welches – zusammen mit dem schwarzen Quadrat und einem späten Bauernbild an der Stirnwand über seinem Sterbebett hing. Während die anderen Portraits der Serie wie bei Cranach oder Dürer auf einen „fondo nero“ gemalt sind, steht Malewitschs Selbstportrait vor hellem, „suprematistischen“ Grund.(Wie seine berühmte „Trilogie“ von 1923: „Schwarzes Quadrat“, „Schwarzes Kreuz“ und „Schwarzer Kreis“). Die Gesichter aller Portraits sind realistisch und stehen damit in stilistischem Gegensatz zur Kleidung. Die ist bunt und in ihrer heraldisch-geometrischen Farbigkeit so etwas wie eine Mischung aus Kleidung der Frührenaissance, burgundischer Mode und Harlekinsgewand; aber doch auch ganz eigene Erfindung. Farbe und Form vermittelt etwas von Maskerade und Karneval. Die Brosche seiner Frau zeigt ein suprematistisches Element (zwei gegeneinander verschobene liegende Rechtecke blau und rot auf weißem Grund).
„Als Renaissancemensch kostümiert fand der Maler zur Menschengestalt zurück.“ (Anm. 32) Die Kleidung kontrastiert damit zu der ernsten, fast erhabenen Körpersprache des Künstlers. (Wyss bezeichnet seine Gestik als die eines „lehrenden Propheten“). So schließt sich der Kreis. Zuletzt reduziert sich die Formenwelt des Suprematismus auf die Kleidung, in der die Geometrisierung des Körpers noch einmal sich feiert. Trotzig scheint die deutende Geste des Meisters auf den Ursprung der Entwicklung zu deuten – die Renaissance als Kulminations- und Höhepunkt einer auf Geometrie basierenden Weltordnung. Gleichzeitig wirkt sie auch wie ein Echo auf die Forderung nach Orientierung an der klassischen Kunst, so wie sie jetzt durch die herrschende leninistisch-stalinistische Kulturpolitik eingefordert wurde, doch weniger als resignierende Anpassung, denn als immer noch selbstbewusstes Beharren auf der bis zuletzt als richtig behaupteten Position.

Coda
An den Schluss möchte ich einen Bildvergleich stellen: Den Schöpfergott mit dem Zirkel in der Hand, eine Illustration aus einer mittelalterlichen Handschrift (Anm. 33) und das Foto der Künstlerin Warwara Stepanowa, aufgenommen von ihrem Mann Alexander Rodschenko (Abb. 16, 17). Die Illustration lässt sich nach Entstehungszeit und Ort genau mit der Epoche der gotischen Kathedralen verbinden. In ihr wird als ein Schöpferideal formuliert, was auf Erden mit dem gerade entstehenden Beruf des „freien Künstlers“ sich verband; also mit dem Bild jenes nicht an den Zwang des Zunftwesens gebundenen, freien Architekten, der mit Hilfe der freien mathematischen Künste (Quadivium) das irdische Paradies (bzw. Abbild des himmlischen Jerusalem) konstruierte. Sie markiert den Anfangspunkt einer Entwicklung, die in den konkreten Projekten und den Entwürfen der Konstruktivisten kulminierte.
Der Vergleich der beiden Bilder über die Jahrhunderte hinweg erscheint auf den ersten Blick vielleicht gewagt. Doch bei allen Unterschieden frappieren die Ähnlichkeiten. Vor allem im Ausdruck. Die gleiche intensive Anspannung in der Körperhaltung, welche die äußerste Konzentration auf die Tätigkeit verdeutlicht: Die Schöpfung der Welt und der Entwurf textiler Muster – was im Makrokosmos (vom männlichen Gott) vorgegeben ist, wird von der Künstlerin Warwara Stepanowa im Mikrokosmos wiederholt. In nuce verweisen die Zirkelschläge in beiden Darstellungen zurück auf eine gemeinsame Wurzel: platonisch-pythagoräischer Ideen, wie sie im Umkreis des gotischen Kathedralbaus rezipiert worden waren (Die Theorien der Schule von Chartres und des Abts Suger von St. Denis, basierend auf neuplatonischem Gedankengut). Nicht nur an Feiningers Holzschnitt der „neuen Kathedrale“ (als Titelblatt des ersten Bauhausmanifests 1919) lässt sich diese Ideenverknüpfung festmachen; sicher nicht zufällig hat Malewitsch einen seiner Architekturentwürfe „Gota“ genannt.
Der russische Schriftsteller Jewgenij Samjatin hatte schon 1920 in seinem utopischen Roman „WIR“ eine zukünftige, von der Vernunft bestimmte Welt beschrieben. (Anm. 34) #samjatinSie ist eine grauenvolle, jedes Gefühl und jede Individualität vernichtende Welt, in deren vollkommen durchkonstruierten, nach außen gegen die „wilde“ Natur abgeschirmten und in sich geschlossenen Räumen die Menschen nur noch Nummern sind. Ihr Leben ist vom Erwachen bis zum Schlaf geplant, die Kleidung uniform und die Gefühlswelt von einem sich permanent optimistisch gebenden, positiven Glücksgefühl bestimmt. In dieser Welt ist die Seele eine Krankheit, unbelehrbare „Gegner des Glücks“ werden vom „Wohltäter“ exekutiert. Nach einem Aufstand gegen die erzwungene Utopie bleibt das Ende offen. Der Held des Romans, Nr. D-503, ist Mathematiker, Ingenieur und Konstrukteur des Integral, eines Raumschiffes, mit dem man die Errungenschaften der vollkommenen Gesellschaft anderen, barbarisch gebliebenen Völkern aufzwingen will. Seine Gedanken im Anfangskapitel zeigen Nähe zu konstruktivistischem Ideengut:
„Heute morgen zum Beispiel war ich auf der Werft, wo der Integral gebaut wird. Plötzlich fiel mein Blick auf die Maschinen. Mit geschlossenen Augen, selbstvergessen, drehten sich die Kugeln der Regulatoren. Die blitzenden Hebel neigten sich nach rechts und nach links, stolz wiegte sich die Balancierstange in den Schultern, der Meißel der Stemmmaschine knirschte im Takt einer unhörbaren Musik. Da ging mir die Schönheit dieses prächtigen, von bläulichem Sonnenlicht überfluteten Maschinenballetts auf.
Unwillkürlich fragte ich mich dann: Warum ist das schön? Warum ist der Tanz schön? Die Antwort: Weil er eine unfreie, eine gebundene Bewegung ist, weil sein tieferer Sinn die vollkommene ästhetische Unterwerfung, die ideale Unfreiheit ist. Wenn es stimmt, dass unsere Ahnen in Augenblicken der höchsten Begeisterung sich dem Tanz hingaben (religiöse Mysterien, Militärparaden), dann kann das nur das eine bedeuten: Der Trieb zur Unfreiheit ist dem Menschen angeboren, und wir, in unserem heutigen Leben tun nur bewusst ...“

Ganz zum Schluss, nach Anwandlungen des Zweifels, ja der Rebellion, findet der Held der Geschichte wieder zur „Einsicht“ zurück, natürlich nicht ohne Hilfe des allmächtigen „Wohltäters“. Der Roman schließt „positiv“ im Glauben an den letztendlichen Sieg der Vernunft. Man muss Samjatins visionäre Weitsicht bewundern. Und es ist sicher kein Irrtum, dass sein Roman in Russland nicht erscheinen konnte und sein Autor geächtet wurde.
„Wir müssen handeln, die Sache duldet keinen Aufschub, denn in den westlichen Vierteln gibt es immer noch Chaos, Gebrüll, Leichen, Tiere und leider auch eine bedeutende Zahl von Nummern, die die Vernunft verraten haben.
Aber es ist uns gelungen, auf dem vierzigsten Prospekt eine provisorische Mauer aus Starkstrom zu errichten. Ich hoffe, dass wir siegen. Ich bin sogar fest von unserem Sieg überzeugt. Die Vernunft muss siegen!“


Der rote Faden der Ariadne im geometrischen Labyrinth des Dädalus kann nur deshalb als Richtschnur funktionieren, weil er weich ist und sich an die starre Geometrie des Labyrinths anschmiegt. Wäre er ebenso starr und geometrisch wie dieses, so könnte man ihn nicht benutzen. Auf das Verhältnis von Körper und Kleidung bezogen heißt dies, dass sich beide Aspekte ergänzen müssen: Der rationale Schnitt, der Maßstab, die ordnende und planende Geometrie und die sensible Wahrnehmung des lebendigen, organischen Körpers. In diesem Sinn kann Vernunft nie das einzige Korrektiv im Bereich ästhetischer Objekte sein, sei sie nun utilitaristisch oder – als eine Art transzendenter Überrationalität – suprematistisch.

Abb. 16 Abb. 17

 

Anmerkungen:

1. Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen II – Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus. Frankfurt/ Main 1979.

2. Gustav René Hocke hat die Neigung der Manieristen zu ‚kubistischer‘ bzw. geometrisierender Körperdarstellung als Ausdruck der Angst vor einer immer komplizierter werdenden Welt, als Versuch einer ‚rationalistischen‘ Reaktion auf die „magische Verflüchtigung der Ding- und Gestaltumrisse“ interpretiert, auch als Form platonischer (bzw. Pythagoreischer) ‚Idea-Lehre‘. (vgl.: G. R. Hocke. Die Welt als Labyrinth, Kapitel 15, S. 111-119).

3. Dies gilt für alle Bindungen in der Mikrostruktur; schon die Diagonale ist treppenförmig – wie übrigens auch am Bildschirm oder beim Computerdruck. Die Geschichte der Bildweberei ist aber auch eine Geschichte von Versuchen, diese engen formalen Grenzen zu durchbrechen – bis hin zu den komplizierten Jacquard-Geweben des Barock. Der Computerdruck löst dieses Problem durch hohe Auflösung.

4. Vgl. Christian Garve. Über die Moden. Frankfurt/Main 1987, S. 31. Im Folgenden geht Garve auch auf die damit verbundenen Funktionen ein (wenn auch mit dem befangenen Blick des Europäers): „Der aktive und bewegliche Abendländer musste seinen Kleidern, in denen er ungehinderte Freiheit seiner Hände und Füße verlangte, einen anderen Schnitt geben, als sie bei dem Morgenländer hatten, der die Ruhe und das Stillesitzen liebt.“ Andererseits verkennt Garve auch nicht die konstruktive Seite der Kleidung, wenn er sie durchgehend mit der Architektur in Verbindung bringt, Gottfried Semper wird diese Idee später zur Grundlage seiner Architekturtheorie machen.

5. Zum Verhältnis von Proportionslehre und Schneiderhandwerk vergleiche das Kapitel ‚Kleidung‘ in: Peter Gerlach. Proportion, Körper, Leben. Köln 1990, S. 39ff.

6. Hegel hat die Gedanken Garves in seine Vorlesung über Ästhetik eingeflochten (Kapitel über die Kleidung in der Skulptur). Seine idealistische Position hat ihn nicht dazu verleitet, im platonischen Sinne die höchsten ästhetischen Formen bei den frühesten Geometrien – also den euklidischen, wie Quadrat, Dreieck, Kreis– zu suchen. Vielmehr entwickelt sich bei ihm die Welt des Schönen dialektisch vom Einfachen zum Komplizierten. Mit Hogarth nennt Hegel die geschwungene, organoide „Wellenlinie“ schöner als die linear geometrische Abstraktion. Und er kritisiert die moderne Kleidung seiner Zeit als ästhetisch unbefriedigend, weil sie die weichen Formen des menschlichen Körpers einzwängt und vergröbert statt sie zu umschmeicheln: „In der Tat ist also solche Kleidung eine bloße Überdeckung und Einhüllung, welche durchaus einer eigenen Form entbehrt, andererseits aber an der organischen Gestaltung der Glieder, denen sie im allgemeinen folgt, gerade das sinnlich Schöne, die lebendigen Rundungen und Schwellungen verbirgt und an deren Stelle nur den sinnlichen Anblick von einem mechanisch verarbeiteten Stoffe gibt. Dies ist das ganz Unkünstlerische in der modernen Kleidung.“ (Aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. II, Frankfurt/Main o.J. – nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos v. 1842).

7. „Die Menschen, die gewohnt sind, nach dem Gefühl zu urteilen, verstehen nichts von den Dingen des Denkens; denn sie wollen es von vornherein mit einem Blick durchdringen und sind nicht gewohnt, die Prinzipien aufzusuchen. Die anderen dagegen, die gewohnt sind, aus Prinzipien zu folgern, verstehen nichts von den Dingen des Gefühls, sie suchen darin Prinzipien und können nichts mit einem Blick erfassen.“ (Blaise Pascal, Pensées, Frgm. 142, in der Übersetzung von Walter Warnach, 1947, S. 120). Da die Mode zur Welt des feingeistigen Höflings gehört, hat mathematisches Denken dort nichts zu suchen, ja erweist sich geradezu als hilflos (vgl. Frgm. 140, ebd. S. 117).

8. Seit der Wiederentdeckung der russischen Avantgarde in den siebziger Jahren – ein Ereignis, das sich in Ost und West mit unterschiedlichen Zielsetzungen vollzog –hat man immer wieder versucht, die politische Seite dieser Arbeiten auszugrenzen, sich auf die „reine“ Kunst und individuelle Leistung zu konzentrieren. Oder auch, wie Noemi Smolik das in ihrem Beitrag zu Kasimir Malewitschs kunsttheoretischen Dokumenten versuchte, den Akzent auf symbolistisch-intuitive und theosophische Einflüsse zu verschieben. (Vgl.: Noemi Smolik: Avantgarde contra Revolution. In: Russische Avantgarde im 20. Jahrhundert – die Sammlung Ludwig. Köln/ München 1993, S. 19-22). Ihre Hinweise auf die Bedeutung der Schriften von Solowjew und Bely sind wichtig – vor allem, was die Kunst von Malewitsch betrifft, doch gehen die daraus gezogenen Folgerungen m. E. zu weit. Sie zielen einseitig auf eine antiwestlich-prorussische, vernunftfeindliche und auf bäuerlich-religiöse Ursprünge bezogene Haltung des Künstlers und stilisieren ihn zum unbelehrbaren Oppositionellen und Opfer des Regimes. Doch sind die Beziehungen zwischen den avantgardistischen Künstlern und dem neuen Regime komplizierter gewesen. Gerade die Avantgarde hatte die Revolution begrüßt und Mitarbeit angeboten. Diese Grundeinstellung hält bei den meisten Künstlern noch lange an, zum Teil bis zum Beginn der 30er Jahre. Malewitsch hat möglicherweise bis zum Schluss gehofft, seine Einsichten und Erkenntnisse könnten Anerkennung finden. Auch wenn er den Suprematismus als ein über der Tagespolitik und Ökonomie stehendes System begriff, so sah er sich doch wohl immer auch als politischen Künstler und handelte danach. Die führenden Funktionäre des Systems, (auch der den Künstlern der Avantgarde durchaus aufgeschlossene Kommissar für Volksaufklärung und -Bildung A. Lunatscharski), haben Malewitschs Theorien weitgehend nicht verstanden, sein rastloses Engagement eher mit Misstrauen beobachtet und seine Kunst als abgehoben und hermetisch angesehen. Aber sie haben ihn toleriert und vor allem zu Beginn in die Kulturarbeit eingebunden.

9. Immerhin hat Beat Wismer die Bedeutung der Philosophie, besonders der Ethik von Spinoza für die Kunsttheorie Mondrians nachgewiesen. Auf die Parallele Malewitsch-Mondrian geht er allerdings nur kurz ein. Er vermutet Einflüsse der Theosophie bei beiden. Boris Groys verweist in diesem Zusammenhang auf Chlebnikow und vor allem die ‚gnostische Theurgie‘ Wladimir Solowjews. (Wismer, Beat, Mondrians ästhetische Utopie. Baden (CH) 1985; Groys, Boris. Gesamtkunstwerk Stalin. München 1988).

10. 1915 gibt Malewitsch seine Broschüre ‚Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus‘ heraus. Stachelhaus, der auf diese Tatsache verweist, hat sich im übrigen ausführlicher zu den Inspirationsquellen des Künstlers geäußert und diskutiert in diesem Zusammenhang auch die breite Sekundärliteratur. (Heiner Stachelhaus. Kasi.mir Malewitsch – ein tragischer Konflikt. Düsseldorf 1989).

11. Stephen Toulmin, Kosmopolis – Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt/Main 1994.

12. Vgl.: H. Stachelhaus, a. a. O., Kapitel 2. Er verwendet dabei die Texte des Künstlers (1923), wie sie in der Publikation der Galerie Gmurszynska 1978 abgedruckt worden sind (Kasimir Malewitsch zum 100. Geburtstag, Ausstellungskatalog Köln 1978).

13. „Auf den Plantagen arbeiteten Bauern, groß und klein, fast den gesamten Sommer und Herbst über; ich als Maler freute mich an den Feldern und den ‚farbigen‘ Arbeitern, welche jäteten und Rüben ausmachten. Mädchengruppen in bunten Gewändern durchzogen in Reihen das ganze Feld. Das war ein Krieg. Die Heere in bunten Kleidern kämpften mit dem Unkraut ...“ (Zitiert bei Stachelhaus S. 81).

14. „Emil Mindlin behauptete gar, der neue Stil sei, wie die Architektur des Parthenon, eine Ansammlung horizontaler und vertikaler Linien, und folglich könne man das von den konstruktivistischen Designern aufgegriffene kragenlose Bauernhemd (tolstowska) als neues Parthenon betrachten. (Nicoletta Misler. Abendkleid und Overall – Der Körper der Avantgarde. In: Amazonen der Avantgarde. Katalog Deutsche Guggenheim Berlin 1999. S. 95-106, Zitat S. 96f).

15. Simmen, Jeannot. Kasimir Malewitsch – das schwarze Quadrat, vom Antibild zur Ikone der Moderne. Fischer-Kunststück 12419. Frankfurt/Main 1998.

16. Stachelhaus, a .a. O. Seite 98.

17. Vgl. den Beitrag von Robert Benedetti, „La Vittoria sul Sole“ in: L‘Arte della Scena, Russia 1900-1930, Katalog Venezia, Milano Moskau 1990, Seiten 242ff.

18. Zitiert bei Stachelhaus, a. a. O. Seite 100f.

19. Vgl. G. R. Hocke, a. a. O. Seite 116-119 (Bracellis Roboter).

20. Aus dieser Zeit existieren einige Textilmusterentwürfe von Malewitschs Hand in streng suprematistischem Stil. (Vgl.: Kazimir Malevich in the Russian Museum. Bestandskatalog des Staatlichen Russischen Museums St. Petersburg 2000; Pc 976, Pc 972 - 75).

21. Kasimir Malewitsch. Suprematismus – Die gegenstandslose Welt. Übertragen von Hans von Riesen, Köln 1962, Seite 1994.

22. Stephan Diederich. Suprematismus im Alltagsgewand – Malewitsch und die angewandte Kunst, in: Kasimir Malewitsch – Werk und Wirkung, Katalog Museum Ludwig, Köln 1995/96, S. 61.

23. Kasimir Malewitsch. Die gegenstandslose Welt. (Neue Bauhausbücher) Mainz Berlin 1980 (Reprint der Ausgabe von 1927, Dessau), S. 96.

24. Vgl. Diederich, a .a. O., Seite 62.

25. Stepanowa: Konstjum segodnjšnego dnja – prozodežka. Hier zitiert nach: H. Gaßner, E. Gillen (Hg.) Zwischen Revolutionskunst und sozialistischem Realismus – Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934 Köln 1979, S. 235ff.

26. Vgl. auch: Fabio Ciofi degli Atti, Szene und Bewegung (Skené e Kinesis), (in: Katalog Russia 1900-1930 - L'Arte della Scena Venezia/ Milano 1990, S. 31). Atti verweist auf die Inszenierungen und Bühnentheorien von Nicolai Foregger (Grejfenturn und Vsevolod Mejerchol´d. Die sich gegen Stanislawski‘s „Kanon der Wahrheitsliebe“ und für ein spontanes, körperbetontes und improvisiertes szenisches Spiel in der Art der Commedia del Arte aussprachen. Atti zitiert Mejerchol‘d (1914): „Der Schauspieler kennt tausend Intonationen. Die meisten verschieden ... er weiß mit dem Körper auf der Bühne geometrische Figuren zu zeichnen. Über dem Gesicht eine tote Maske, aber, dank seiner Meisterschaft, weiß er sich in jede Mode zu kleiden, weiß seinem Körper eine solche Pose .zu verleihen...welche sie, die tote, lebendig werden lässt.“

27. Dem entspricht im Bereich der Skulptur die organoide Formensprache des Letatlin, die sich am Skelett der Vögel orientiert. Zumindest symbolisch verweist diese Formensprache auf biologisch-dynamische Funktionalität. Dass der Letatlin, nie flog, vielleicht auch real nie fliegen sollte, muss nicht unbedingt als Bekenntnis zur Nichtfunktionalität des Technischen an sich interpretiert werden. (Vgl.: Boris Groys: Das Kunstwerk als nichtfunktionelle Maschine: Wladimir Tatlin. In: B. G.: Die Erfindung Russlands, München 1995, 112-119). Groys selber argumentiert im Verlauf seines Essays vorsichtiger als der plakative Titel vorgibt. Dennoch stellt sich die Frage, ob eine dekonstruktivistische Interpretation des Letatlin, nicht zu sehr aus der postmodernen Sicht kommt. (Als Fundamentalkritik an der Maschine etwa im Sinne eines Tinguely). Bei Tatlin selber mag manches, was in der Gestik des „Prototyps“ verharrte, durchaus als „Konstruktivismusformel“ für spätere Entwicklungen gedacht worden sein. Weiter ist zu bedenken, dass es in der Laborküche der jungen russischen Avantgarde die unterschiedlichsten Ideenverbindungen und Kontakte gab. Funktionalistische Architektur, utilitaristisches Design, agitatorische Schnittmontage (in den Filmen von Eisenstein oder Pudowkin), Diagonalperspektive in den Fotografien Rodschenkos und andere radikal geometrische Formung der Kultur konkurrierten und verbanden sich mit Ideen eines „Biomechanischen Theaters“ (Mejerchol‘d) oder mit den Tanzreformen in der Nachfolge einer Isidora Duncan, deren Moskauer Tanzstudio in den zwanziger Jahren wichtige Impulse auch für andere Kunstgattungen gab. (Vgl. dazu: Nicoletta Misler. Coreografia e linguaggio del corpo fra avanguardia e ristaurazione: il Laboratorio Coreologico della RAChN, in: Russia 1900 -1930 a. a. O. S. 42 - 49). Auch in der sogenannten Taylorismusdebatte (also die Frage nach einer möglichst organisch-biologische Verbindung zwischen Mensch und Maschine im Rahmen industrieller Produktion zwecks Beschleunigung und Erleichterung der Arbeit ) finden wir gegenläufige Tendenzen. Wenn man sich aber die Art und Weise betrachtet, in der Kandinsky die expressive Tanzgestik der Palucca zu einer Komposition von Zirkelschlägen abstrahiert (W. Kandinsky: Tanzkurven zu den Tänzen der Palucca, Kunstblatt X, 1926), wird die Tendenz deutlich, die damals sehr viele Künstler bewegte: Die Welt in eine geometrische Ordnung zu zwingen.

28. Abbildung und übersetzter Text wurde dem Katalog: Kasimir Malewitsch – Das Spätwerk, Kunsthalle Bielefeld 2000 entnommen (Seite 30).

29. Beat Wyss. Der Wille zur Kunst – zur ästhetischen Mentalität der Moderne. Köln 1996, (S. 236).

30.Vgl. Thomas Kellein. Vom schwarzen Quadrat zur farbigen Unendlichkeit. In: Kasimir Malewitsch. Das Spätwerk. A. a. O. Seite 21.

31. Vgl. dazu: Boris Groys. Die russische Avantgarde – der Sprung über den Fortschritt. In: B. G.: Gesamtkunstwerk Stalin, a. a. O. Seite 38.

32. Wyss. Der Wille zur Kunst. A .a. O. Seite 241.

33. Illustration aus der "Bible moralisé illustrée", zwischen 1220 und 1250 im Dialekt der Ostchampagne geschrieben,
heute: Österreichische Nationalbibliothek Wien, Reg. Nr. 2554.

34. Jewgenij Samjatin: Wir (My), aus dem Russischen übersetzt von Gisela Drohla, München 1975.