nicht nur alle andern
sondern auch alle sondern

sowohl die aber sondern
als auch die gerade deswegen sondern..


Gerhard Falkner 1988

Die Nebelkammer

In der Physik ist die von G.T.R. Wilson 1912 entwickelte Nebelkammer bekannt als ein Gerät, welches dazu dient, atomare Prozesse in einem mit abgekühltem Gas-Dampf-Gemisch stark übersättigten Behälter für den Bruchteil einer Sekunde sichtbar zu machen.
Als Willi Frommberger beim Vorbereiten unserer Ausstellung diesen Titel vorschlug, mögen noch andere Assoziationen eingeflossen sein: die atomare, sozusagen monadische Existenz des einzelnen Künstlers, der oft katastrophische, bisweilen aber auch neue Energien freisetzende Verlauf von Begegnungen zwischen diesen Künstlern und schließlich auch das verbreitete Gefühl von Nebulosem, Unerklärlichem, welches Außenstehende gerne mit der Kunstwelt verbinden.

Im folgenden versuche ich, die richtige Balance zu finden zwischen dem, was ungesagt bleiben oder nur angedeutet werden soll, und dem, was zum Anreiz neugieriger Spurensuche, als Leitfaden vergleichender Betrachtung dem Besucher der NEBELKAMMER vielleicht nützlich sein könnte. Als Teil der mittelalterlichen Befestigung war die Hahnentorburg einst Manifestation einer in sich geschlossenen, nach außen hin wehrhaften Stadteinheit. Die Räume bilden diese Funktion noch heute ab, auch wenn der nördliche halbrunde Eckturm nach 1945 durch den Einbau einer Fensterwand aufgehellt wurde. Eine enge Wendeltreppe schraubt sich nach oben und führt in hohe, im Grundriss der Außenform des Gebäudes entsprechende Räume, eingeschlossen von mächtigen Mauern. Nach zwei Seiten hin geben Fenster den Blick frei auf die Dächer der Stadt. Die Rüstkammern von einst wurden nach dem letzten Krieg zu Kunstkammern, bald nach der NEBELKAMMER werden sie in Narrenkammern umgewandelt werden (wie bisher schon die meisten der städtischen Wehrtürme). Die NEBELKAMMER untergliedert sich in fünf Räume, zwei quadratische Zentral- und zwei halbkreisförmige Nebenräume. Bilder und Skulpturen von über dreißig Künstlerfreunden - Einzelwerke oder zusammengehörige kleine Reihen - sind von uns beiden (Dascha Veme und Michael Zepter) ausgesucht und konfrontiert mit eigenen Arbeiten gehängt worden: Bilanz und Zwischenstation nach fünfundzwanzig Jahren Künstlerleben.
Die alten Wehrkammern sind abgeschlossen gegen die Außenwelt, einst gegen den Feind, der die Stadt mit Krieg und Eroberung bedrohte, heute gegen den Straßenverkehr, der das nunmehr isolierte, von der verbindenden Stadtmauer abgeschnittene Gebäude umfließt. Damit entstand über dem Gewühl ein Ort der Konzentration und Betrachtung. In gewandelter Funktion lebt inmitten der Lärmstadt - ähnlich wie in unseren Kirchen - die utopische Vergangenheit einer stilleren Welt fort. Nimmt man die Wirklichkeit der Kunstwerke ernst, so zeigen sie als stille Gegenstände den Vorschein einer Welt, die nicht vorrangig von Krieg und Lärm geprägt ist. In einer hektischen, zerrissenen Zeit sind sie gegen diese gestellt, sind zugleich aber auch ihr Spiegel. Aus dem unauflöslichen Widerspruch von Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaft und Konzentration zur subjektiven Äußerung lebt die Kunst der Moderne seit ihrem Beginn. In ihr zeigt sich damit auch der anhaltende Konflikt der Demokratie.
Der Ort, wo der Gegensatz zwischen radikaler Subjektivität und notwendiger Zusammenarbeit in der Geschichte der modernen Kunst vor allem ausgetragen wurde, war die Künstlergruppe, in der sich - meist auf kurze Zeit - verschiedene Künstler zwecks Austausch und Durchsetzung ihrer Ideen zusammenfanden. Diese Versuche scheiterten letztlich vor allem deshalb, weil die eigene individuelle Arbeit sich nicht auf Dauer gemeinsamen Zielvorstellungen unterordnen wollte. Die NEBELKAMMER ist kein Ausstellungsprojekt einer um ein bestimmtes ästhetisches Programm bemühten Gruppe; sie ist auch keine thematische Ausstellung, für die die Beteiligten noch schnell ein passendes Bild gemalt haben. Sie wächst aus einer Kommunikationsform, welche dem einzelnen die freie Entfaltung seiner Individualität belässt, ohne in die Beliebigkeit eines unverbindlichen Nebeneinanders zu verplätschern. Gemeint ist ein über viele Jahre hin langsam gewachsenes Netz freundschaftlicher Beziehungen.
Der Kunstmarkt der achtziger Jahre ist charakterisiert durch Widersprüche. Auf der einen Seite dominiert schon aus Gründen der Wertbeständigkeit nachgerade die Tendenz, den Künstler auf das Podest ewiger Gültigkeit zu heben und in dem damit verbundenen Aussonderungsprozess die übrigen zurückzuweisen. Andererseits steht heute selbst die in hundert Jahren gereifte Summe avantgardistischer Leitideen zur Disposition, was nicht hindert, sie nach Belieben auszuplündern. Der latenten Unsicherheit entspricht ein fortdauerndes Suchen nach künstlerischer Innovation, welche man sich aus der anschwellenden Masse der jungen Künstler herauszupicken versucht. Eben erst hat man Joseph Beuys im Westberliner Martin-Gropius-Bau mit großem Pomp zu Grabe getragen, und die damit verbundene Spekulation auf Wertzuwachs der Objekte beginnt schon jetzt die andere Seite seines Werkes, die Idee einer "Entgrenzung der Kunst als soziale Plastik" zu verdunkeln. Der Skandal einer hemmungslosen Vermarktung der Kunst wird von vielen beklagt, doch nur wenige können sich aus dieser Umklammerung befreien, denn der bloße Verzicht auf Macht, aggressiven Einfluß und Reichtum genügt nicht, und der Weg aus der subjektiven Vereinzelung fällt emotional schwer, wird auch selten honoriert. Die NEBELKAMMER negiert diesen Zustand nicht, aber sie ist außerhalb der üblichen Strukturen angesiedelt; in ihr werden Werke von sehr unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstlern miteinander konfrontiert. Neben den Arbeiten von bekannten, auch im Kunsthandel präsenten Künstlern hängen Bilder, Zeichnungen, Photographien oder stehen Skulpturen von jungen, noch unbekannten, bisher unbekannt gebliebenen oder auch schon fast wieder vergessenen Malern und Bildhauern. In Ausdruck, Form und Thematik spiegelt die NEBELKAMMER die Vielfalt der Gegenwartskunst.
In der allgemeinen Hektik des Kunstbetriebs wird nur allzu leicht vergessen, wie langsam ein Werk heranreift, wie vielfältig es sich dabei mit den Werken anderer Künstler vernetzt. Wer bildender Künstler wird, läßt sich wie jeder, der Neues schaffen will, auf ein lebenslanges Abenteuer ein. Aber er geht diesen Weg meist nicht völlig isoliert, auch wenn er im Atelier bei der Arbeit allein ist. Um ihn herum bildet sich ganz selbstverständlich ein Netz von Beziehungen, Begegnungen, wechselseitigen Einflüssen und Konkurrenzen. In der Jugend sind Kunsterzieher, Künstler in der Familie oder am Heimatort die ersten Berater und Vorbilder, in der Akademie knüpft sich ein enges Band zwischen Studenten derselben Generation, Partnerwahl ist oft auch mit der Frage nach künstlerischer Intensität verbunden; später erweitert sich der Kreis durch Ateliergemeinschaften, gemeinsame Ausstellungsprojekte oder Galerien, oft möchte man einfach jemanden näher kennen lernen, auf dessen Arbeit man neugierig ist.
Untereinander ist man kritischer Rezipient, bemüht sich aber auch um das Verstehen von Kunstproduktionen mit anderen Zielen. Man besucht die Vernissagen, begutachtet neue Arbeitsreihen und verfolgt die Entwicklung, wagt vorsichtig Kritik oder bewundert ohne Neid (auch wenn es schwerfällt). Man gönnt dem anderen den Erfolg, versucht nicht, ihn im Konkurrenzkampf auszustechen, obwohl eben gerade daran schon manche Freundschaft zerbrochen ist. In merkwürdiger Solidarität hält man nach außen hin zusammen, auch wenn die Bindungen innerhalb der Gruppe locker sind, vielleicht über Jahre hin ruhen. Manche Verbindungen sind eng, dauerhaft und wechselseitig, es gibt Querverbindungen und Überlappungen zu anderen Zirkeln. In die NEBELKAMMER integriert sind zwei ehemalige Künstlergruppen: ROTOHR und K66. Keineswegs sind solche Beziehungen frei von Konflikten; jede künstlerische Subjektivität ist daran gewöhnt, die Welt um sich herum am eigenen Anspruch zu messen; und sie wacht misstrauisch, dass nichts die Intensität und Qualität der eigenen Arbeit mindert.
In der Regel bleiben Freundeskreise der Öffentlichkeit verborgen. Die Zeiten, in denen sich Künstler wie z.B. Courbet oder Max Ernst geradezu demonstrativ umgeben von ihren Freunden bei der Arbeit im Atelier oder von Parteigängern und in Anspruch genommenen Vorbildern oder Ahnherren darstellten, sind offensichtlich vorbei. Wenn wir trotzdem den Versuch wagen, exemplarisch die NEBELKAMMER eines Freundeskreises zur Schau zu stellen, so geschieht das sicher aus der Lust, gegen den Strom zu schwimmen. Vielleicht auch aus dem Gefühl, dass die Zeit einmal wieder reif ist für einen Versuch. Jedenfalls gab und gibt es ähnliche Unternehmungen. (So stellte schon Ende der sechziger Jahre der Freundeskreis um den Schweizer Künstler Daniel Spoerri unter dem Titel "Freunde, Friends, Fruend" aus; und symptomatisch schien uns, wie selbstverständlich sich fast alle bereit erklärten, bei dem Projekt NEBELKAMMER mitzumachen.) Für den Mut und die Bereitschaft, sich auf das Wagnis dieser Ausstellung einzulassen, danken wir allen Beteiligten ausdrücklich. Sie sind uns Ansporn und Verpflichtung, mit aller uns zur Verfügung stehenden Phantasie und Intensität die NEBELKAMMER zu installieren und, wie der alte Faßbender zu sagen pflegte, das Scheitern so weit nach vorne zu treiben wie irgend möglich.

Michael Zepter Köln im Mai 1988

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