Im Garten der Pfade, die sich verzweigen
Die Ensembles der Anna Oppermann

von Michael Cornelius Zepter

Im Laufe der zwanzig Jahre stetigen Wachsens hat sich Anna Oppermanns Werk auf drei Ebenen herausgebildet: materiell als die Summe aller Teile, aus denen die Ensembles sich zusammensetzen, sprachlich als ein System aufeinander bezogener Aussagen und Zeichen und schließlich imaginär als Konzeption im Kopf der Künstlerin.
Die Ensembles der Anna Oppermann — inzwischen gibt es über 50 — sind sehr komplexe Raumgebilde, die sich aus einer Vielzahl von Einzelteilen zusammensetzen. Zwischen den Ausstellungen werden diese Environments zum Archiv, sorgsam zerlegt und im Depot aufbewahrt. Aber auch in dieser Zwischenzeit existiert das Gesamtwerk als Konzept in Anna Oppermanns Vorstellung weiter und entwickelt sich parallel zum realen Wachstum, unterstützt durch Skizzen, Entwürfe, niedergeschriebene Assoziationen. Ohne diese Kopfarbeit, die Fähigkeit, hunderte von Details und Einzelaspekten gleichzeitig zu überschauen, wäre es für die Künstlerin sicher unmöglich, ihre Ensembles stets neu, immer wieder erweitert als subtil ausbalancierte Gesamtkunstwerke aufzubauen.
Zuletzt konnte ich dies sehr ausführlich 1984 in den Räumen des Bonner Kunstvereins erleben: Vier große und einige kleinere Ensembles füllten die Zimmerfluchten dieses einstigen Bürgerhauses fast völlig aus. Der Eindruck war ganz anders, als man sonst bei Präsentationen zeitgenössischer Kunst gewöhnt ist, wo es in der Regel klar gegliedert, reduziert, ästhetisch eher puristisch zugeht. Auf den ersten Blick. mögen Anna Oppermanns Ausstellungen an jene Kunst- und Raritätenkammern der Feudalzeit erinnern, wo Bilder flächendeckend die Wände füllten und dazu noch alle möglichen Kostbarkeiten und Fundstücke in Regalen, Vitrinen oder auf Podesten sich anhäuften. Die Ensembles schieben sich aus den Ecken vor in den Raum — an den Wänden Bilder in unterschiedlichen Formaten dicht zusammengedrängt, so daß sie ineinander überzugehen scheinen; auf diesen Bildern wieder Abbilder von solchen Bilderwänden und auf deren Bildern wieder ähnliche Abbildungen — das verliert sich ins immer Kleinere, schließlich Unerkennbare, wird Struktur. Auch auf dem Boden wachsen die Bildplatten nach vorne, oft auf verschieden hohe Podeste gelegt, so daß eine stufen- oder treppenförmige Kunstlandschaft entsteht. Im Zentrum auf allen möglichen Bänkchen, Tischchen oder neuerdings auch auf fragilen, seltsam funktionslos anmutenden Möbelchen futuristischen Designs präsentieren sich unzählige Zettel, Zeichnungen, Fotos, Notizen, dazwischen auch Pflanzenteile, Fundstücke, Trivialobjekte, alles leicht und luftig gelegt oder vorsichtig geheftet, fast wie absichtslos und doch ganz selbstverständlich. Wechselnde Arbeits- und Ausdrucksformen, Medien wie Fotografie, Zeichnung, Malerei und Collage stehen nebeneinander, vermischen sich, ergänzen sich oder kontrastieren miteinander. Gegen eine vielstufige Skala unterschiedlichster Weiß-, Grau- und Schwarztöne werden kontrastierend einzelne Farben gesetzt: Das frische Grün lebendiger Pflanzen, warme Ocker und vor allem festliche Rots: Zinnober, Karmin, Purpurrosa.
Auf der Sprachebene schließlich weiten sich die Ensembles über ihre Grenzen hinaus aus. Es fällt auf, daß über wenige zeitgenössische Künstler so viel und so gut geschrieben worden ist. Die Kompliziertheit und Intelligenz von Anna Oppermanns Werk spiegelt sich in den Aufsätzen ihrer Interpreten, von denen Georg Jappe, Wolfgang Becker, Hans Peter Althaus, Bazon Brock, Manfred Schneckenburger, Uwe M. Schneede und Margarethe Jochimsen hervorgehoben sein sollen. Deren Beiträge stehen in den Katalogen neben Fremdzitaten aus Literatur, Wissenschaft, der Medienwelt und Anna Oppermanns
eigenen Texten - kunsttheoretischen Uberlegungen, Skizzen zur Arbeitsmethodik oder poetischen Assoziationen -, sie tauchen aber auch in Fragmenten innerhalb der Ensembles auf. Diese sprechen über sich, unterhalten sich sozusagen, mal betont, klar, pointiert, dann wieder beiläufig, verrätselt, nachdenklich, bisweilen auch naiv oder trivial. So entsteht ein dichtes Gefüge von Ausrufen, Fragen, Anmerkungen, Behauptungen oder Hinweisen, welches sich teils innerhalb, teils außerhalb der Ensembles in wechselseitiger Durchdringung fortspinnt.

Anna Oppermann: MKÜVO) Ensemble 1979 bis 1992

Ensemble = Modell zerebraler Verflechtungen = sedimentierter Prozeß = Auffächerung einer Methode.

Es ist eine komplizierte und zugleich verblüffend einfache Methode, die Anna Oppermann seit Ende der sechziger Jahre entwickelt hat. Sie reflektiert die Tradition akademischen Naturstudiums ebenso wie die Methoden der Surrealisten oder die Verfahren modernen Kreativitätstrainings, sie entspricht aber auch einfach wacher Lebenserfahrung: Ein Wort bleibt hängen
(» ... irgendwie ist sie so anders«) oder ein Ding wird für Momente aus dem Strom des täglichen Gebrauchs herausgerissen, wird zum Gegenstand des Betrachtens oder Nachdenkens. Bei Anna Oppermann sind die Auslöser bisweilen Blumen oder andere Pflanzen (weil sie ebenfalls wachsen, sich selber reproduzieren in diesem gewalttätigen Lebenswillen? So wie Ensembles wachsen und die Künstlerin sich behaupten muß?).
So wird also zum Beispiel die Gurke nicht nur zerschnitten zwecks Anrichtung eines Salates, sondern möglicherweise plötzlich zum ästhetischen Objekt: Halbe Gurke, Gurkenscheiben auf dem Teller! Warum dies kleine Stillleben nicht zeichnend festhalten? So wie die Legende es von Picasso erzählt: Den Fisch vor dem Essen malen und hinterher die Gräten auch noch! Aber muß man sich nicht selber dabei mitzeichnen? Zumindest die Knie, den Block und die zeichnende Hand?
So wie der ins Wasser geworfene Stein ringförmige Wellen erzeugt, das Kernmaterial zu strahlen beginnt, entsteht allmählich eine sich ausweitende Sammlung von Bildern und ergänzenden Texten. Die Pfade beginnen, sich zu verzweigen. Als weiteres Mittel kommt die Fotografie dazu: das Urensemble wird fotografiert und damit zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Arrangement dokumentarisch festgehalten. Das um dieses Foto erweiterte Ensemble kann nun wieder gezeichnet oder fotografiert werden. Neue Fundstücke und Texte werden aufgenommen, neue Bezüge kristallisieren sich aus.
Anna Oppermann — A & O —, viele Anfänge, aber kein Ende?
Bisher ist sie nur zu Raum- und Gebäudefüllungen, nicht aber zu Städte- oder Planetenfüllungen gelangt. Aber dies sich weiterzuspinnen, bereitet Vergnügen. Wieviel Raum könnte ein einzelner, eine Gruppe, die Menschheit gar mit ihren Assoziationen füllen? (Wobei hier Idee und materieller Raum zusammenstoßen, die zu erwartenden gewissen Schwierigkeiten muß ich offenlassen).
Faszinierend ist zu beobachten, was im Zuge dieses Prozesses mit der angebotenen Information geschieht. Zunächst verwischt Anna Oppermann die Spuren ihrer Erkundungen und Überlegungen, zeichnet hier nur flüchtig oder spontan, zeigt dort raffinierte, nicht leicht zu entschlüsselnde Ausschnitte und schreibt viele Texte klein oder unleserlich. (Die Angst vor Trivialem, vor Klischees, wie Wolfgang Becker anmerkt!) Die Fotografie als zusätzlicher Manipulator bläst Details auf, rafft ganze Riesenecken zum Polaroid zusammen. Bilder und Texte sedimentieren, Assoziationsketten schrumpfen zum Fleck, Vergessen macht sich breit. Dazu kommt dann noch der Abstand: In die großen Ensembles kann man (darf man!) nicht hineinkriechen, vieles ist da auf dieser Bühne auch mit Opernglas nicht mehr zu erkennen.
Man begreift: Auch in diesem Sinn sind die Ensembles Modelle des denkenden Subjekts, aber auch Abbilder der geschichtlichen Welt. Entfernt könnte man an die wimmelnden Weltlandschaften eines Pieter Brueghel denken, aber die Bewegung geht nicht durch Teilung vom Bild ins Kleinere zum Punkt, sondern vom Punkt zum All. Diese Offenheit entspricht unserem Weltbild.
So nähert sich also das Werk der Anna Oppermann unaufhaltsam jenen Visionen endloser Bibliotheken, die Jorge Louis Borges oder Franz Kafka erfunden haben. In der Aktualität jeden Ensembles steckt die Potentialität des grenzenlosen Labyrinths und zugleich vermittelt es auch die Einsicht in die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung; die Bibliothek zu Babel gleicht hierin dem Turm.
Ich möchte aber noch auf einen anderen Aspekt hinweisen: Natürlich hat Anna Oppermann, die unaufhörlich Produzierende, sich Gedanken gemacht über den Betrachter, den meist nur begrenzt Aufnahmefähigen oder auch -willigen. So hat sie sich schon mal in einem Ensemble (»Elfenbeinturm«) versteckt, um von dort aus auf den Besucher zu lauern, zu beobachten, wie er auf die ausgelegten Köder der Phantasie reagiert. In ihrem Wissensdurst wollte sie sogar einen »Rezeptionsapparat für genaues Hinsehen« entwerfen (»Könnte man nicht die Augenbewegungen dabei aufzeichnen?«, fragt sie mit gespannter Neugier.) All das führt nicht an dem Problem vorbei, daß hier zunächst einmal eine andere ganze Arbeit geleistet hat und der Publikumsmensch von der Fülle des Angebotenen schier erschlagen wird. Zeit brauchte man, viel Zeit - und würde vielleicht doch vergeblich hinterherlaufen, würde sehen und lesen, lesen und sehen und schließlich weder zu Anna Oppermann kommen noch zu sich selbst. Das alles sind ja auch fremde Gedanken, fremde Taten — das wird heftig bewußt.

»Darf ich nicht Abstand nehmen, das Ganze einfach als vielfach gestuftes, reich gegliedertes, oszillierendes Raumgebilde ansehen, mit leerem - ästhetischem - Auge sozusagen?«

»Natürlich darfst du das«, sagt Anna Oppermann. »Aber . . .?«

Die Falle ist schon längst zugeschnappt. Aus diesem Strudel reißt man so leicht sich nicht heraus. Immer wieder lösen sich aus dem Geräusch der Ensembles einzelne Bilder und Wörter, siegt die eigene Neugier über die Befremdung.

Die Spannung zwischen künstlerischer Freiheit und wissenschaftlicher Notwendigkeit, zwischen Poesie und Rationalität, zwischen Mitteilung und Verweigerung bleibt erhalten. Die Ensembles, verschlüsselte Archive über Anna Oppermanns Innenleben ebenso wie kleine Welttheater, sind nicht nur Spiegel sondern auch Pfade: Angebote für einen aufmerksamen Hinseher und Nachleser, nicht bei der Verwunderung allein stehen zu bleiben.
Das Spiel ist gemacht, aber noch nicht zu Ende: Alles bleibt möglich!

(In: Anna Oppermann - Pathosgeste. Edition Lebeer Hossmann, Hamburg Brüssel 1987)