Zeichnen
Michael Zepter

(Katalog PRAXIS, Ausstellung von Dozenten und Studenten
des Kunstseminars der Fakultät 8, RWTH Aachen, Burg Stolberg 1984)

Erinnerungen:

Schon als kleiner Bub war ich von Zeichnungen umgeben: Zeichnungen an den Wänden, mein Vater riesengroß zeichnend an der Staffelei, Zeichnungen und Grafiken in den Büchern; die Don-Quichote-Illustrationen von Doré, Leporinis "Stilentwicklung", Curt Glasers "Die Graphik der Neuzeit", damit wuchs ich auf. Die Silberstift- und Rötelzeichnung meines Vaters mochte ich weniger - zu viele Linien und die Menschen alle nackt und friedlich.
Die kämpfenden Ritter Doré's mit ihren phantastischen Rüstungen imponierten mir mehr. Zwar fehlte die Farbe der Bilderbücher, aber dafür gewöhnte ich mich früh ans Schwarz-Weiße und an den Federstrich. Meine ersten Federzeichenversuche waren der Schrecken meiner armen Mutter: wie viele umgestoßene Tintenfässer, wie viele Tuscheseen auf frischgewaschenen Sonntagstischdecken markierten meine Abenteuer! Trotz aller möglichen Vorsichtsmaßnahmen passierte es immer wieder: Die Feder hakt, die Hand rutscht aus, das Tuscheglas kippt, der nasse See breitet sich aus - tiefschwarz mit helleren Rändern; und jedesmal erfasste mich eine merkwürdige Mischung aus lähmenden Entsetzen und wollüstiger Faszination. Hellgraue Flecken, von Wäsche zu Wäsche verblassend, aber nie ganz zu tilgen, dokumentierten meine ersten Lehrjahre.

Viel später, an der Akademie in Düsseldorf, brauchte ich lange Umwege, um die Spur meiner Kindheit wieder aufzunehmen. Zusammen mit meinem Freund Heinrich hatte ich begonnen, im ersten Semester die damals noch überall in den Gängen herumstehenden Gipsabgüsse berühmter Skulpturen des Abendlandes abzuzeichnen, vom Pergamonfries bis zu Michelangelos Sklaven. Die Zeichenakademie des 19. Jahrhunderts spukte noch in unseren Köpfen. Nach dem Gips kam dann die "Natur" dran: Landschaft, Portrait, Akt, Stadtvedute, Tiere im Kölner Zoo - das Übliche. Niemand zwang uns dazu, den Ballast akademischer Zeichentradition noch einmal durchzukauen. Wahrscheinlich war dies unser Weg privater Vergangenheitsbewältigung, um den idealistischen Wust unserer "humanistischen Bildung" los zu werden, diese Träume von Richtigkeit, Schönheit und Genialität. Der Weg in die Gegenwart war mühsam und wurde in kleinen Schritten zeichnend erobert. Für mich bedeutete er zugleich die Wiederentdeckung verschütteter Kindheitserfahrungen: abknickendes Spiegelbild des Schilfrohrs, Tropfringe vom schwebenden Ruder auf ölglattem See, klebriges Baumharz an den Fingern, getarnte Pilze im Laub, Holzsplitter unterm Zehennagel, warmes Dösen auf der Lattenholzbank vorm Haus, dicker muskulöser Pferderücken gegen die nackten gekrümmten Beine, die Spur des abgeschnittenen Steckens im Uferschlick ...

Dazu die Disziplin der Zeichenklasse von Josef Faßbender, diesem misstrauischen Wächter über erlaubte und verbotene Linien! (Kommissariat für Form, Kunst-Polizei!)

Anforderungen:

Zeichne eine Linie: Im komplizierten Zusammenwirken von Auge, Zeichenstift, Papieroberfläche und Hand entwickelt sich ein rhythmischer Ablauf von wechselnden Akzenten und "Leerstellen". Einatmen - Ausatmen! Spannung und Abfall der Spannung! Die Linie teilt den Bildraum in zwei Flächen, aber sie ist auch selbst eine Spur. (Gemeintes und Nichtgemeintes, Verdacht und Einklang, zugleich auch Vorläufiges, nur ein Anfang). Eine zweite Linie sucht sich ihren Weg, in Wechselspannung zur ersten: Dialektik (die vorhandene Linie beeinflusst die entstehende, im Entstehen verändert die neue Linie die erste). Immer mehr Zwischenräume wachsen, die durch immer mehr Linien eingeengt und geformt werden. Der Prozeß ist potentiell endlos - bis zum völlig schwarzen Blatt. Im Idealfall muss jede Linie zu allen anderen "passen" und zugleich zugeordnete Räume schaffen, die ebenfalls "passen". Probleme von Anfang und Ende, von Figur und Grund, Kontur und Binnenlinie, Fläche und Raum - Grauwerte, Weißreste. Verdichtung geht über zur Struktur, Linie wird zum Strich, Kreuzschraffur zerstört die Richtung, zugleich entstehen Gitter. Faßbender: "Jede Zeichnung ist ein bis zu einer äußersten Grenze vorgetriebenes Scheitern"!

Beobachtungen:

Während ich mit anderen spreche, während ich warte, während ich nichts tue, während ich mich bewege, - beobachte ich. Ständig wandern meine Augen, wie in Trance. Ich speichere Formsituationen: da, dieser Riss in der Wand - jäh unterbrochen -dort setzt er sich fort, als Schmutzspur; die Struktur der Steinfließen ist amorph - gerade deshalb entstehen Korrespondenzen; der Bleistift auf der Tischplatte ist aus der Senkrechten gerutscht, er bildet mit einem Buch einen bestimmten Winkel. Überhaupt hat jeder in der Diskussionsrunde vor sich auf dem Tisch eine abstrakte Montage aus Blättern, Büchern, Zigarettenschachteln, Kugelschreibern hergestellt. (Natürlich völlig aus dem nicht bewussten Hantieren, und das ist in der Regel besser als gewollte Komposition).

Das fortdauernde Theater der Dinge, Spiel mit den nichtbildnerischen Mitteln, weises Auge gegen die Zuckung der Hand, Kneipen-Ikebana, die unwiederholbare Geste des Dornausziehers ...

Lernen:

Kann man Zeichnen lernen? Selbstverständlich - schließlich hat es ja jeder mal gelernt, der es "kann", (aber wie viele öde, ebenso ausgetüftelte wie überflüssige Systeme hat uns diese Frage beschert). Ich versuche also, einige vorläufige Erfahrungen zu formulieren:

Zeichnen lernt man, indem man zeichnet! Nichts kann das Zeichnen selber ersetzen, ja, ich werde den Verdacht nicht los, dass selbst die beste Didaktik das Üben nicht nur nicht ersetzen, sondern nicht einmal abkürzen kann. Missverständnisse und Fehler sind notwendig, wenn Neues entstehen soll, und eine "Handschrift" lernt man nicht im Kursverfahren. Aber kann die Theorie nicht wenigstens gliedern und ordnen, zum Beispiel durch Zerlegung komplexer Vorgänge in einzelne Lernschritte? Nun, wenn man vereinfacht, wird es nicht unbedingt einfacher. Bestenfalls werden die Probleme deutlicher. Wenn man glaubt, an der einen Stelle etwas erreicht zu haben, tauchen neue, ungelöste Probleme auf. Aus einem "sensiblen Strich" ergibt sich noch keine Form; und ein "richtig gezeichneter Akt" kann ohne jeden Ausdruck sein. Aber kann man Gefühle üben? Trotz aller Regeln und Tricks, die man aus der Tradition der Zeichenlehren kennt, muß man das Zeichnen wahrscheinlich so lernen, wie man "zu leben lernt".
Dies ist wohl die schlimmste Falle akademischer Zeichenübung, dass man die Wirklichkeit verliert, und vergessen wird, dass die Zeichnung wie jedes künstlerische Medium "Sprache" ist, auch wenn sie nicht "redet", sondern vorzeigt".

So schließt sich der Kreis: Zeichnend finde ich mich selbst und meine Existenz in dieser Welt, entdecke meine Kindheit, mein Erwachsenwerden, meinen Körper, meine Gefühle, meinen Verstand in Beziehung zu den Körpern, Gedanken, Emotionen, Handlungen der anderen Menschen, zur Welt der Dinge und zur verschütteten Natur. Zeichnen, das ist Spur und Weg, Ereignis und Handlung, zur Stille hinzielender Prozeß, dessen Bild gewordenes Ergebnis selbst wieder Prozesse auslöst. Zeichnen verbindet Neugier und Entscheidung, Rhythmus und Ausbruch; Zeichnen fängt an und hört irgendwo auf. Doch jedes Ende ist ein neuer Anfang.

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