Begegnung in Amsterdam
Michael Cornelius Zepter — Seite 6 (Die Sprache der Gesten)


Die Sprache der Gesten


Gegen Ende meiner Zeichentage in Amsterdam begegne ich Elsje zum ersten Mal: Else, die Andere, die Fremde und doch gleich Vertraute, Els Agsteribbe, die Jüdin. Für mich ist sie zunächst nur eine junge Frau, ein holländisches Meisje, in das ich mich fast augenblicklich verliebe. Mir fehlt dieser „Instinkt“ der Älteren, die immer sofort zu wissen scheinen, ob jemand Jude ist. Mir fehlt er völlig, dieser Jagdinstinkt.
Ihre weiche Hand sucht in der Manteltasche die meine. Wir blicken uns an und der Funke springt über. Die wenigen Tage, die mir noch bis zur Abreise bleiben, sind wir unzertrennlich. Intensives Schlüsselerlebnis: Ein Mendelssohn-Bartholdy-Abend im Concert-Gebouw zusammen mit meinem Freund Heinrich, Els und ihrer Freundin. Elsje hat das organisiert und damals ahne ich noch nicht, warum sie gerade dieses Konzert ausgesucht hat.
Irgendwann später, als wir alleine sind, sagt sie es dann: „Ich bin Jüdin.“ Dieses Wort verändert die Situation sofort. War es anfangs noch unbeschwerter Flirt, so wird es nun plötzlich ernst, Beklommenheit breitet sich aus. Die Gedanken wirbeln in meinem Kopf. „Weißt Du“, sagt Elsje schlicht aber sehr eindringlich, „ich war als ganz kleines Kind in Auschwitz, habe es aber überlebt.“ Ich frage nach ihrer Familie, sie weicht aus: „Ich kann dir darüber nichts erzählen... was sie mit meinem Vater gemacht haben... es war so schrecklich.“
Auch ich habe meinen Vater durch die Nazis verloren, aber das ist im Krieg gewesen, ganz weit entfernt und nicht greifbar. Ich fühle mich schuldig. Es ist keine persönliche Schuld, aber das Bewusstsein, dass deutsche Menschen das alles geplant und durchgeführt haben, füllt mich mit Empörung und Entsetzen; zugleich aber auch mit dunklen, ganz archaischen Schuldgefühlen: ein unabänderliches Vermächtnis ist das, eine große brennende Frage.

Natürlich hatte ich mich mit dem Thema des Holocaust beschäftigt. Vor allem, nachdem ich den Film „Bei Nacht und Nebel“ von Alain Resnais gesehen hatte. In der Schule war das Thema von einem jungen Lehrer behandelt worden. Ich hatte sogar versucht, das Entsetzliche zu zeichnen, war aber damit gescheitert: Wie sollte man auch das darstellen, das man sich noch nicht einmal vorzustellen wagte? Das alles ist ebenso schrecklich wie unbegreiflich; und doch ist es geschehen; und jetzt steht ein Mädchen vor mir, das selber Opfer war, das Auschwitz erlebt und überlebt hatte.

Eine lange Nacht wandern wir durch die Straßen der Stadt. Wie Beatrice den Dichter Dante Alighieri durch das Purgatorium, so führt Elsje mich durch ein fremdes, mir bis dahin unbekanntes Amsterdam, das jüdische Amsterdam. Von Bank zu Bank ziehen wir, sitzen eng aneinander geschmiegt, denn es ist noch sehr kalt in der Osternacht und der Atem steht uns weiß vor dem Mund. „Weißt du“, sagt Elsje ganz zu Anfang unserer nächtlichen Reise , „Ich kann nicht mit dir schlafen heute; meine Freundin kann so etwas manchmal schon am ersten Tag, sie nimmt das leichter, aber ich kann das nicht“. Ich bin erschrocken über so viel direkte Offenheit. Ich bin noch jungfräulich und unerfahren; nie hat vorher ein Mädchen so unverstellt zu mir über Sexualität gesprochen. Das ist eine ganz neue Erfahrung, ebenso unheimlich wie befreiend. So wie sie mich durch die Stadt führt, so behutsam und doch bestimmt lenkt sie auch meine Emotionen.
Unsere Gesten bleiben zärtlich verhalten. Wir umarmen uns, drücken die kalten Wangen aneinander, spielen mit den Händen. Zwischendurch erzählt Elsje mir von ihrem Volk, von den Juden in Amsterdam und der jungen Anne Frank, die in ihrem Versteck in der Prinsengracht an ihrem Tagebuch schrieb. Wir schlendern durch das Judenviertel, sie führt mich zum Haus, in dem Rembrandt gewohnt hat und zu dem des großen jüdischen Philosophen Spinoza, sie zeigt mir die Synagogen. Es gibt viele versteckte Hinweise und Denkmäler aus der Zeit des Grauens, aber auch aus der Zeit, als die verschiedenen Religionen und Kulturen noch friedlich zusammen gelebt haben.

Die Kanäle liegen schwarz und unbeweglich unter uns, die Nacht ist dunkel und fast unwirklich still, wir dämpfen unsere Stimmen und wissen uns in unserer Zweisamkeit geborgen. Fast hat das alles den Charakter einer Weihehandlung, einer Initiation: als ob ich durch ein Tor in ein geheimnisvolles fremdes Land geführt würde... Einzug in gelobtes Land?
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