Die Sprache der Gesten
Gegen
Ende meiner Zeichentage in Amsterdam begegne ich Elsje zum ersten Mal:
Else, die Andere, die Fremde und doch gleich Vertraute, Els Agsteribbe,
die Jüdin. Für mich ist sie zunächst nur eine junge
Frau, ein holländisches Meisje, in das ich mich fast
augenblicklich verliebe. Mir fehlt dieser „Instinkt“ der
Älteren, die immer sofort zu wissen scheinen, ob jemand Jude ist.
Mir fehlt er völlig, dieser Jagdinstinkt.
Ihre weiche Hand sucht in der Manteltasche die meine. Wir blicken uns
an und der Funke springt über. Die wenigen Tage, die mir noch bis
zur Abreise bleiben, sind wir unzertrennlich. Intensives
Schlüsselerlebnis: Ein Mendelssohn-Bartholdy-Abend im
Concert-Gebouw zusammen mit meinem Freund Heinrich, Els und ihrer
Freundin. Elsje hat das organisiert und damals ahne ich noch nicht,
warum sie gerade dieses Konzert ausgesucht hat.
Irgendwann später, als wir alleine sind, sagt sie es dann:
„Ich bin Jüdin.“ Dieses Wort verändert die
Situation sofort. War es anfangs noch unbeschwerter Flirt, so wird es
nun plötzlich ernst, Beklommenheit breitet sich aus. Die Gedanken
wirbeln in meinem Kopf. „Weißt Du“, sagt Elsje
schlicht aber sehr eindringlich, „ich war als ganz kleines Kind
in Auschwitz, habe es aber überlebt.“ Ich frage nach ihrer
Familie, sie weicht aus: „Ich kann dir darüber nichts
erzählen... was sie mit meinem Vater gemacht haben... es war so
schrecklich.“
Auch ich habe meinen Vater durch die Nazis verloren, aber das ist im
Krieg gewesen, ganz weit entfernt und nicht greifbar. Ich fühle
mich schuldig. Es ist keine persönliche Schuld, aber das
Bewusstsein, dass deutsche Menschen das alles geplant und
durchgeführt haben, füllt mich mit Empörung und
Entsetzen; zugleich aber auch mit dunklen, ganz archaischen
Schuldgefühlen: ein unabänderliches Vermächtnis ist das,
eine große brennende Frage.
Natürlich hatte ich mich mit dem Thema des Holocaust
beschäftigt. Vor allem, nachdem ich den Film „Bei Nacht und
Nebel“ von Alain Resnais gesehen hatte. In der Schule war das
Thema von einem jungen Lehrer behandelt worden. Ich hatte sogar
versucht, das Entsetzliche zu zeichnen, war aber damit gescheitert: Wie
sollte man auch das darstellen, das man sich noch nicht einmal
vorzustellen wagte? Das alles ist ebenso schrecklich wie unbegreiflich;
und doch ist es geschehen; und jetzt steht ein Mädchen vor mir,
das selber Opfer war, das Auschwitz erlebt und überlebt hatte.
Eine lange Nacht wandern wir durch die Straßen der Stadt. Wie
Beatrice den Dichter Dante Alighieri durch das Purgatorium, so
führt Elsje mich durch ein fremdes, mir bis dahin unbekanntes
Amsterdam, das jüdische Amsterdam. Von Bank zu Bank ziehen wir,
sitzen eng aneinander geschmiegt, denn es ist noch sehr kalt in der
Osternacht und der Atem steht uns weiß vor dem Mund.
„Weißt du“, sagt Elsje ganz zu Anfang unserer
nächtlichen Reise , „Ich kann nicht mit dir schlafen heute;
meine Freundin kann so etwas manchmal schon am ersten Tag, sie nimmt
das leichter, aber ich kann das nicht“. Ich bin erschrocken
über so viel direkte Offenheit. Ich bin noch jungfräulich und
unerfahren; nie hat vorher ein Mädchen so unverstellt zu mir
über Sexualität gesprochen. Das ist eine ganz neue Erfahrung,
ebenso unheimlich wie befreiend. So wie sie mich durch die Stadt
führt, so behutsam und doch bestimmt lenkt sie auch meine
Emotionen.
Unsere Gesten bleiben zärtlich verhalten. Wir umarmen uns,
drücken die kalten Wangen aneinander, spielen mit den Händen.
Zwischendurch erzählt Elsje mir von ihrem Volk, von den Juden in
Amsterdam und der jungen Anne Frank, die in ihrem Versteck in der
Prinsengracht an ihrem Tagebuch schrieb. Wir schlendern durch das
Judenviertel, sie führt mich zum Haus, in dem Rembrandt gewohnt
hat und zu dem des großen jüdischen Philosophen Spinoza, sie
zeigt mir die Synagogen. Es gibt viele versteckte Hinweise und
Denkmäler aus der Zeit des Grauens, aber auch aus der Zeit, als
die verschiedenen Religionen und Kulturen noch friedlich zusammen
gelebt haben.
Die
Kanäle liegen schwarz und unbeweglich unter uns, die Nacht ist
dunkel und fast unwirklich still, wir dämpfen unsere Stimmen und
wissen uns in unserer Zweisamkeit geborgen. Fast hat das alles den
Charakter einer Weihehandlung, einer Initiation: als ob ich durch ein
Tor in ein geheimnisvolles fremdes Land geführt würde...
Einzug in gelobtes Land?
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