DER
EINSTIGE UND KÜNFTIGE ANZUG
Anne
Hollander*
|
|
DAS
MÄNNLICHE KOSTÜM SEIT DER KLASSIZISTISCHEN REVOLUTION macht
somit deutlich, wie das subversive Prinzip arbeitet. Zuerst verbreitete
sich die neue Kleidung für Herren auf tausend Arten, sowohl vertikal
als auch horizontal. Viktorianische Herren wurden ebenso versiert darin,
sich ausgesucht zu kleiden, wie ihre Frauen und Töchter. Sie besaßen
viele verschiedene maßgeschneiderte Gewänder mit diversen Accessoires
für unterschiedliche Arten gesellschaftlicher und beruflicher Anlässe.
Viele davon waren unbequem und anspruchsvoll, einige sportlich und angenehmer
zu tragen, aber alle gleich kompliziert. Einfache Straßenanzüge
für das Volk verbreiteten sich in der Zwischenzeit ebenfalls in vielen
Stilen, Farben und Stoffen und natürlich in vielen Qualitätsabstufungen.
Außer
den Hochzeits- und Sonntagsanzügen für
das einfache Volk wurde jedoch auch Arbeitskleidung
in der neuen Form gemacht. Auf realistischen französischen und englischen
Gemälden und Illustrationen des 19. Jahrhunderts kann man Landarbeiter
in Hosen aus grober Wolle oder Cord sehen, die mit Jacken oder Westen
über farbigen oder gestreiften Hemden getragen wurden. Zwei Generationen
zuvor hätte man sie in Kniehosen und Kittel abgebildet. In den Vereinigten
Staaten kamen Jeans und Overalls hinzu.
|
August Sander: Westerwälder
Bauern (vor dem 1. Weltkrieg)
|
Weil jeder Mann in
einer anderen Version von Kleidung steckte - auf dem Ball, im Büro,
in der Prärie oder im Schacht -, mußte das System irgendwann
emotional und visuell durchgerüttelt werden, besonders wenn die formalen
Prinzipien erhalten bleiben sollten. Und so geschah
es, dass Sportkleidung, Arbeitskleidung und natürlich Militär
und Gangsterkostüme im Salon und in der Oper auftauchten, um das
Auge zu verblüffen und die Gefühle zu schockieren. Mit
dem Kino und dem Fernsehen konnten alle Arten aus der Mode gekommener,
historischer, theatralischer und ausländischer Motive das Bild des
Mannes mitgestalten. Die gesamte Gesellschaft liefert Möglichkeiten
für die Herrenschneiderei, die oft nebeneinander bestehen und sich
gegenseitig beeinflussen können. Ein weißer
Smoking und ein lila Trainingsanzug können nun bei demselben Anlass
auftauchen, ohne dass es besonders auffällt, genauso wie
man im selben Raum Frauen antrifft, die ganz unterschiedlich gekleidet
sind.
Es
hat dessen ungeachtet bei all dem ein einziges begrenzendes männliches
Prinzip gegeben, dasselbe, das Frauen seit den Anfängen stets kopiert
haben. Man
stößt darauf, wenn man registriert, was Männer bei aller
neuen Vielfalt nicht tragen. Erstens einmal kombinieren sie in der Regel
nicht verschiedene Stile, wie es Frauen oft tun, das heißt, ein
Mann wird nicht die Trainingshosen mit der weißen Smokingjacke
tragen, was die Mode den Frauen gestatten würde -- außer er
übt sich sehr bewusst in modischer Sparsamkeit.
Die Kleidung der meisten Männer drückt weiterhin ein größeres
Gefühl für visuelle Grenzen aus als die der Frauen, ich möchte
sagen, sogar ein geschärfteres Gefühl für modernes Design,
das auf der Vorstellung basiert, dass ein einziges Kostüm einen einzigen
ästhetischen Zweck erfüllt und eine einzige Idee braucht, um
seine sichtbaren einzelnen Teile zu vereinen.
|
Anton Räderscheidt:
"Mann mit Bowler", Ende 20er Jahre)
|
Es
ist unübersehbar, dass westliche Männer noch immer keine Draperien,
Überwürfe, Roben, Schals und Schleier tragen wollen.
Der Körper selbst muß nachgezeichnet bleiben, er darf nie verhüllt
werden. Männer tragen auch keine Röcke, zum Teil aus demselben
Grund -- Hosen können sehr weit sein, aber sie bleiben eindeutig Hosen.
Falls es sich je verbreiten sollte, dass westliche Männer Röcke
tragen, könnten sie den Charakter des Kilts oder des antiken, römischen,
militärischen Rockes haben, der später in der Renaissance kopiert
wurde - etwas ziemlich Kurzes und Schwingendes, um die Beine zu zeigen und
ihnen volle Aktionsfreiheit zu gestatten, und auch, um die robuste westliche
Geschmacksnote zu transportieren. Die langen gewickelten Sarongs, die man
jetzt im Fernsehen als alltägliche männliche Bekleidung in Afrika
sieht, könnten für eine gewisse Zeit in Mode kommen, aber ich
glaube, nicht allgemein - alte Gewohnheiten sterben, wie ich schon mehrfach
sagte, nur sehr schwer. Im Westen ist seit dem Mittelalter
drapierte und verhüllende Kleidung definitiv unmännlich, außer
für Priester und Mönche, deren Kleidung das Körperliche sorgfältig
herunterspielt.
Ich möchte
behaupten, dass der nackte männliche Körper noch immer das geisterhafte
visuelle Bild und die zugrunde liegende Suggestion ist, die von jedem gewöhnlichen
männlichen westlichen Kostüm aufgegriffen und erzeugt wird, ganz
gleich, wie umfassend die Oberfläche bedeckt ist. Genauso wurde er
durch den Plattenpanzer oder den ersten klassizistischen Anzug suggeriert.
Der moderne Anzug überlebt zum Teil deswegen,
weil er sich unter all den auffälliger enthüllenden Varianten
gegenwärtiger männlicher Bekleidung die Fähigkeit erhalten
hat, diese Suggestion der Nacktheit herzustellen.
|
Ljubov Popowa: Theaterkostüm
(Arbeiteranzug, Produktionskunst)
|
DER
KLASSISCHE HERRENANZUG ENTWICKELT SICH WEITER, ohne irgendwelche extremen
Brüche zu gestatten. Er behält seine traditionelle nüchterne
Schönheit und seine subtilen Oberflächen, und normalerweise tragen
Frauen ihn immer noch nicht. Sie haben natürlich mehrfach demonstriert,
dass sie es können, aber üblicherweise tun sie es nicht. Sie tragen
viele ähnliche Varianten und kreative Versionen, aber der vollständige
klassische Anzug mit Hemd und Krawatte gehört immer noch den Männern.
Und zum Teil deshalb fühlen sich einige Männer in der sexuell
fließenden Atmosphäre, die die Mode heute reflektiert, vom Anzug
eingeengt. Der Anzug bleibt die Uniform offizieller
Macht, nicht manifester Kraft oder körperlicher Arbeit - er verweist
auf Diplomatie, Kompromiss, Höflichkeit und physische Selbstkontrolle;
nichts davon ist zur Zeit besonders in Mode. Der Außenminister
soll ihn tragen, gewiss, aber heutzutage ist es offensichtlich, dass nicht
jeder so aussehen will, als ob er emotionale Ausbrüche oder offene
Konflikte um jeden Preis vermiede.
Der Anzug als solcher
zwängt den Körper nicht ein, wie es der Panzer oder die Wämser
der Renaissance taten; er ist eine locker sitzende Hülle. Aber er verbirgt
die ganze Oberfläche des Körpers ziemlich gründlich, und
er weist sein Ensemble von Linien, Farben und Formen mit Diskretion vor.
Folglich steht der Anzug heute im Ruf, nichts auszudrücken, und das
in einer Ära trainierter Muskeln und annähernder Nacktheit, ganz
zu schweigen von politischem Protest, sexueller Revolution und ethnischer
Selbstbehauptung sowie all den Elementen theatralischen und filmischen Glanzes,
mit denen jeder heute spielen kann.
Anzüge
sind offensichtlich nicht wirklich ausdruckslos; sie drücken klassische
Modernität aus,
im materiellen Design, in der Politik und in der Sexualität. In ihrer
reinen Form bedeuten sie eine selbstsichere erwachsene Männlichkeit,
die weder den Beigeschmack von Gewalt noch von Passivität hat. Der
Anzug reflektiert zweckgerichtete Entwicklung, nicht phantastische Inspiration;
er hat den modernen Look sorgfältig vereinfachter dynamischer Abstraktion,
die ihren eigenen starken erotischen Reiz hat. In der Gesellschaft war er
eine passende visuelle Folie für die phantasievolleren Kreationen,
die Frauen trugen, und in diese Richtung entwickelt er sich weiter - allerdings
nur, wenn die Kleider der Frauen auch in Zukunft zu den Anzügen der
Männer passen. Heute bietet zum Beispiel eine Zusammenkunft, bei der
die Männer formell dunkle Anzüge tragen, oft einen peinlich unausgeglichenen
Anblick: die Frauen sehen in langweiligen oder unmodernen Abendkleidern
nicht elegant genug aus, oder in ihren Tageskleidern nicht festlich genug,
während die Männer in ihren dunklen Anzügen unabhängig
von deren Alter und Grad der Schäbigkeit alle wunderbar aussehen.
|
August Sander: junger
Mann im Tweedanzug,
(Anfang 30er Jahre)
|
Am
Tage können klassische Herrenanzüge unpassend aussehen, wenn man
sie einem Großteil postmoderner weiblicher Kleidung gegenüberstellt,
mit ihrem verspielten, zusammengewürfelten, fragmentarischen Charakter
und bewusst nachlässigen, ephemeren Aussehen, das oft unkonstruiert,
formlos und seinem Wesen nach nicht durchdacht ist. Wenn man einen Herrenanzug
an diesen Effekten misst, kann man sagen, dass er fad aussieht; aber er
kann natürlich auch postmoderne Frauen schlampig und anarchisch aussehen
lassen, so als ob ihnen das Urteilsvermögen fehle, Anlass und Ort einzuschätzen.
Der Anzug schafft, wie ich am Anfang sagte, ein Gefühl der Überlegenheit.
Ein Herrenanzug
bildet natürlich ein gutes Muster für klassische Damenkostüme
und für andere klassische
Formen moderner weiblicher Ensembles - ein- oder zweiteilige
Kleider, Rock-und-Jacke Kombinationen aller Art, da diese erfunden wurden,
um mit der männlichen Version zu harmonieren.
Solche
Gewänder, nicht immer nur Kostüme, die die Anzüge der Herren
ergänzen, werden von weiblichen Berufstätigen aller Art getragen,
von Politikerinnen und Fernsehansagerinnen, von Frauen in Aufsichtsräten,
in Gerichten und in zahllosen Büros. In letzter Zeit erfahren sie dieselbe
abfällige rhetorische Behandlung wie Herrenanzüge, obwohl sie
weiterhin die Grundlage moderner weiblicher Garderobe bilden. |
|
Da
diese weibliche Mainstream-Mode eine erwachsene weibliche Version des
Herrenanzugs darstellt, ist ihre Art der Sexualität in gleicher Weise
erwachsen und wesentlich auf Selbstachtung gegründet, statt überschwänglich,
überheblich, kindlich oder pervers zu sein. Ihre Erotik ist ausnahmslos
diskret, und sie ist daher unausweichlich respektabel. Als Folge davon
hat diese Mainstream-Mode für Frauen den öffentlichen Eklat
in gewisser Weise eingebüßt, besonders in der Modepresse, die
das subversive Element in der Mode hochhalten muß und versucht,
das Neue zu loben, das mit Sicherheit explosiv und verspielt erscheint.
Moderne klassische Einfachheit kann Verrat üben am gegenwärtigen
Geist extrem freier Ausdrucksmöglichkeiten für jeden in jedem
Kontext; aber die gutgeschnittene, diskrete Mode für beide Geschlechter
hält sichtlich die Stellung, ohne von Fanfaren begleitet werden zu
müssen. Die besten kreativen Talente der Haute Couture fühlen
sich von ihr unablässig herausgefordert.
Zweifellos
ist der Herrenanzug für Männer nicht länger universell.
Es scheint dennoch, als ob er weiterhin Standards setzt, und
daher behält er sein Prestige, auch als Ausdruck einer selbstsicheren
männlichen Sexualität. Verweiblichende Variationen, die auf
seiner Grundgestalt aufbauten, wurden während der letzten fünfzig
Jahre hauptsächlich für Frauen entworfen. Zugleich fügten
Designer, die für beide Geschlechter arbeiteten, wie Bill Blass,
Gianni Versace, Giorgio Armani und in letzter Zeit Donna Karan, ihm neue
Elemente hinzu.
Diese
Frauenbekleidung hat die männliche Mode tief beeinflußt, indem
sie mögliche künftige Entwicklungen des Anzugs in einem veränderten
kulturellen Klima andeutete. Aber alle diese Erfindungen fanden statt,
ohne jemals den klassischen Herrenanzug selbst ganz zu opfern oder ihn
aus dem Rennen zu werfen.
Wenn
der Anzug sich für wirkliche Korrumpierung anfällig zeigen sollte,
so dass reine, unverfälschte Exemplare schließlich nur noch
von entschlossenen Kultanhängern und rabiaten Konservativen getragen
würden, könnten wir sagen, dass seine Zeit wirklich vorbei ist.
Aber bislang deutet nichts darauf hin. Ausgezeichnete Konfektionsanzüge
werden in jeder größeren Stadt in hoher Stückzahl verkauft,
und die exquisite Maßschneiderei ist keineswegs tot. Sie setzt tatsächlich
noch immer den Maßstab für das Konfektionsgeschäft. Verkäufer
werden nicht müde zu versichern, dass ihr Produkt nur bei genauer
Prüfung von maßgeschneiderter Kleidung zu unterscheiden ist.
|
*
(Aus: Anne Hollander :Anzug und Eros - Eine Geschichte der modernen Kleidung.
Berlin 1995. S. 177-83) |
|
|