"Kinderzeichnung" (1962)
Merle Osrin studierte damals an der Kunstakademie Düsseldorf und lebt heute als Bildhauerin in der Nähe von London.

Eine Straße
eine schmutzige, verkommene Straße,
wo die Großstadt abflacht
und man den Dreck selten weg fegt.
Eine Straße
in Lumpen,
hohläugig
mit kaum vernarbten Kriegswunden.
Wo das Böse sich in Türöffnungen räkelt,
dort,
an einem trüben Tag
hocken zwei Kinder
zwei Mädchen
auf dem Asphalt,
und zeichnen
mit zitternd energischen Strichen
ihren Traum::
Über vergitterten Häusern
der große Sturm!

Wir (Merle und ich) kamen durch eine enge Gasse, eine, die in ihrem Schmutz und ihrer Trostlosigkeit noch etwas von der alten Welt bewahrte – und vielleicht doch mehr erzählen konnte über die neue Welt als alle Prachtstraßen. Die Mauern hatte der Zeitkrebs teilweise bis zum Ziegelskelett abgefressen, überall blätterte Dreck, angeschwemmter Unrat häufte sich an der Steile der Häuser. Die Augen der Straße waren gebrochen, tot und zwischen den modernden Balken hing das Gras lang und fahl wie Totenhaar. Der trübe Tag steigerte noch den Eindruck der eklen Verlassenheit und machte die Augen der Bösen unter den Türen dunkler, gedrückter.
In dieser feuchtgrauen Luft das Parlando des Nachbarinnengeschwätz und die Schlagerfetzen des schlechten Gewissens. Mitten auf dem brüchigen Asphalt hockten zwei Kinder, Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt oder ein bisschen älter und zeichneten mi einem Stück Mauerputz auf die Straße. Wir blieben stehen. Die eine blickte auf und musterte uns scheu und abwartend. Dann bückte sie sich wieder und vollendete ihr Bild: Eine Straße mit hohen Häusern, vielen, vielen vergitterten Fenstern und darüber eine Sturmwolke, sehr energisch aus gebündelten senkrechten Strichen.
„Das ist aber eine große Sturmwolke über den Dächern“, bemerkte ich.
Eines der Mädchen nickte und strich sich die Fransen aus der Stirn.
„Schön“, sagte ich und auch Merle nickte nachdenklich und bekräftigte:
„Ja, es ist wirklich sehr schön.“
Dann gingen wir weiter.

 

 

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