Nähe
und Distanz
Sehr
früh am Morgen. Elsje bringt mich zum Bahnhof. Zwischen uns
wächst unsichtbar eine Mauer des Schweigens. Schon ist der Zug
eingefahren... noch schnell ein paar nichts-sagende Worte des
Abschieds, die die Gedanken kaschieren! Ich kann nicht
ausdrücken,
was mich in diesem Augenblick bewegt. Elsje scheint das zu
spüren.
Sie sagt nichts, aber plötzlich umarmt sie mich,
küsst mich
heftig, mit erschreckender Leidenschaft. Atemlos reiße ich
mich
los, besteige das Abteil, verstaue mein Gepäck. Winken aus dem
Fenster, bis der Zug die Bahnhofshalle verlässt. Noch lange
sitze
ich mit klopfendem Herzen und starre hinaus auf die immer schneller
vorbei rasende holländische Landschaft.
Ich habe Elsje nie wieder gesehen. Wir schrieben uns noch ein paar
Monate lang, doch weigerte sie sich beharrlich, ihre Adresse auf die
Couverts zu schreiben. Statt dessen zeichnete sie immer ein kleines
blaues Sternchen. Dann gab sie ihre Stellung im Jugendhotel
„Het
Behouden Huis“ auf und zog ins Prinseneiland:
„Es ist da wunderbar ruhig und schön. Es gibt sehr
alte
Giebelhäuser und um fünf Uhr, wenn es in der Stadt am
beschäftigsten ist, ist es da so still wie in einem Dorf. Es
ist
ein guter Platz für Maler...“
Das war Ende August und mit diesem Sommer hatte ich auch meine
große Liebe und spätere Frau kennen gelernt
– dies
Erlebnis schwemmte alles Vorhergehende hinweg. Wir verloren uns. Ich
muss allerdings gestehen, dass das Geschenk dieser kurzen Liebe mich
auch mit Beklommenheit erfüllt hatte. Der Abschiedskuss am
Bahnhof
hatte mich in seiner bedingungslosen Intensität erschreckt -
ich
wich zurück vor einer zu engen Bindung, wollte für
meine
künstlerische Entwicklung frei sein. Heute denke ich, aus dem
Abstand der Jahre, dass es auch die Scheu vor der Welt des Judentums
war, möglicherweise auch religiöse Bindungen, die
damals noch
stark und unemanzipiert waren. Parzival konnte die entscheidende Frage
nicht stellen, war noch nicht reif für die Vereinigung. (Bei
Wolfram wird zum Schluß nicht nur Parzival zum Gral berufen,
sondern auch Feirefiß, sein „wie eine
Elster“
schwarz-weiß gefleckter heidnischer Halbbruder. Auch das ist
ja
einmal deutsche Dichtung gewesen... welch erstaunliche Offenheit und
Toleranz im staufischen Mittelalter!)
So
endete unsere Begegnung, die für mich mehr als eine kurze
Episode
war, still und undramatisch. In ihrem letzten Brief an mich, den ich
immer noch besitze, schreibt Elsje: „Micha, ich
weiß ich
träume zuviel; aber will man die Wirklichkeit gut sehen,
muß
man auch träumen können. Ohne schwarz gibt es doch
kein
Weiß. Das ist der Kreis des Lebens. Und ich denke, dass es so
ist, weil ich manchmal Märchen für Kinder schreibe.
Das Leben
ist doch voll mit Märchen und es gibt so viele Ideen
für eine
Erzählung. Was im Augenblick, da es passiert, nur
schön und
romantisch scheint, ist später ein schönes
Märchen.
Gleich wie ein Photobuch gibt es so viele schöne Erinnerungen
und
man lächelt ein wenig weh, als man wieder daran denkt
– und
schreibt dann drei Stückchen Papier und hat das konserviert;
und
andere haben was zu lesen, aber was es für mich war, soll nie
einer wissen.“
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